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Inhalt archiviert am 2024-04-18

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Computer ersetzen Tierversuche: Ein neuer Ansatz für die Nanotoxikologie

Prof.  Robert Rallo, Koordinator des MODERN-Projekts, spricht über den neuen Ansatz der Initiative zur Bewertung der Giftigkeit von Nanopartikeln, der zu einer großflächigeren Aufnahme rechnergestützter Verfahren beitragen soll.

Das Projekt MODERN wurde ins Leben gerufen, um ein klareres Verständnis davon zu schaffen, wie sich Nanopartikel auf die Umwelt und unsere Gesundheit auswirken. Der Ansatz der Projektforscher beruht auf neuartigen rechnergestützten Verfahren, um die Struktur von Nanopartikeln zu charakterisieren. Die neuen Computermodelle zur Bewertung ihrer Wirkung versprechen außerdem, den Bedarf für Tierversuche zu senken. Wirtschaftlicher Druck führte schon oft dazu, dass wissenschaftliche Fortschritte in neue Produkte umgesetzt wurden, bevor wir uns allen Vor- und Nachteilen vollständig bewusst waren. Asbest ist ein bekanntes Beispiel, und dieses Szenario könnte sich mit der Nanotechnologie leicht wiederholen, wenn keine angemessenen Sicherheitsstudien durchgeführt und entsprechende politische Maßnahmen ergriffen werden: Laut einigen der neuesten Prognosen wird der Markt für Nanotechnologie bis zum Jahr 2020 einen Wert von 75,8 Mrd. USD (65,8 Mrd. EUR) erreichen. Und obwohl synthetische Nanopartikel (engineered nanoparticles, ENP) für Produkte wie Kosmetika, Farben und Elektronik bereits weit verbreitet Anwendung finden, ist noch immer nicht viel über ihre langfristigen Auswirkungen auf biologische Systeme bekannt. Zur Vertiefung unseres Wissens setzen Wissenschaftler nach wie vor stark auf Tierversuche – trotz der Anstrengungen von Tierschutzaktivisten, Wissenschaftler und politische Entscheidungsträger zu alternativen Versuchsverfahren zu bewegen. Im Einklang mit den Bestrebungen der EU, angemessene Prüfstrategien zu erreichen, und mit dem Ziel, gegenwärtige Herausforderungen zu überwinden, die der Aufnahme rechnergestützter Verfahren entgegenstehen, initiierte Projektkoordinator Prof. Robert Rallo im Januar 2013 das MODERN-Projekt. Einige Monate vor Abschluss des Projekts spricht er mit uns über die erreichten Erfolge und die zu erwartenden Auswirkungen auf die toxikologischen Bewertungsverfahren für ENP. Wird Ihrer Ansicht nach in Europa genug unternommen, um die Giftigkeit von ENP zu messen, bevor sie auf den Markt gebracht werden? In den letzten Jahren leitete die EU umfassende Maßnahmen ein, um die wissenschaftlichen und methodischen Prinzipien der Labor- und Tierversuche für Nanomaterialien festzulegen. Obwohl noch spezifische Regulierungen zum Einsatz nanotechnologischer Produkte fehlen, arbeitet die EU daran, eine Grundlage für die Aufnahme angemessener Prüfstrategien zu schaffen, um die Risikobewertung und die regulatorische Entscheidungsfindung zu unterstützen. Die Vielfalt von Nanomaterialien (z. B. verschiedene Kombinationen von chemischen Verbindungen, Kern-Hülle-Strukturen, Formen und Funktionalisierungen) macht die vollumfängliche Prüfung dieser Stoffe zu einer schwierigen Aufgabe. Vor diesem Hintergrund werden hochdurchsatzfähige Prüfverfahren und informatische Tools entwickelt – zum Beispiel in MODERN und anderen RP7-Projekten, die auf die ENP-Modellierung ausgerichtet sind. Diese Tools werden in naher Zukunft zur Bereitstellung alternativer Prüfverfahren beitragen, mit denen die vielen verschiedenen Nanomaterialien auf effiziente und kostengünstige Weise evaluiert werden können. Warum ist die toxikologische Beurteilung von ENP so stark von Tierversuchen abhängig? Dies liegt hauptsächlich daran, dass aktuelle Laborversuche und rechnergestützte Verfahren noch nicht als zuverlässige Modellsysteme für diesen Zweck gelten. Die Beseitigung des „biologischen Rauschens“ (d. h. der Datenvariabilität) bei Hochdurchsatzuntersuchungen ist die am dringendsten zu bewältigende Herausforderung. Zudem müssen wir ebenso dringend große Datenbanken mit hochwertigen Versuchsdaten zusammenstellen, um aus diesen wiederum informatische Tools für die Giftigkeitsvorhersage zu entwickeln. Wie möchten Sie dies erreichen? Im MODERN-Projekt entwickeln wir Computertools für die nanotoxikologische Bewertung, indem wir unterschiedliche Informationen über Nanopartikel auswerten. Wir verfolgen einen integrierten Ansatz, der verschiedene Arten von Informationen mit dem Konzept bestimmter „Adverse Outcome Pathways“ kombiniert. Im Speziellen konzentrieren wir uns auf die nanotoxikologischen Wirkungen, die durch Reaktionen auf oxidativen Stress entstehen. Mithilfe der Quantenchemie und molekularer Modellierungsansätze haben wir neuartige Methoden zur Berechnung größenabhängiger Nanodeskriptoren entwickelt. Auf Grundlage dieser Deskriptoren konnten wir dann Nano-QSAR (Quantitative Struktur-Wirkungs-Beziehungen) ermitteln, die für eine Reihe ökotoxischer Endpunkte bei verschiedenen Spezies anwendbar sind, darunter Protozoen, Algen und Bakterien. Ein weiterer Erfolg besteht in der Entwicklung einer neuartigen Normalisierungsmethode für -omische Daten, mit der genetische und Pathway-Aktivität bei geringen Konzentrationen festgestellt werden können, d. h. unter realistischen Bedingungen, wie sie in der Umwelt vorkommen. Außerdem wurden Modelle entwickelt und validiert, die zur Vorhersage der Wechselwirkungen zwischen Nanopartikeln und Zellen dienen und auf der Zusammensetzung der Proteinkorona der Nanopartikel basieren. Zu guter Letzt versuchen wir, die Genauigkeit aktueller Modelle zu steigern, indem wir homogene Nanopartikelkategorien definieren und dann für jede Kategorie neue, spezifische Modelle entwickeln. Erfüllen die entwickelten Modelle Ihre ursprünglichen Erwartungen? Wir konnten aufzeigen, dass die Kombination verschiedener Informationsarten (z. B. physikalisch-chemische Eigenschaften, strukturelle Merkmale und Bioaktivität auf verschiedenen Ebenen der biologischen Organisation) zu den Wirkungen der Nanopartikel von wesentlicher Bedeutung sind, um informatische Tools zu entwickeln, welche die Risikobewertung und Entscheidungsfindung im Hinblick auf Nanomaterialien unterstützen können. Computertools sind auch für sichere Nanomaterialien von hoher Bedeutung, da rechnergestützte Modelle die Entwicklung neuer Nanopartikel mit genau überwachter Toxizität anleiten können. Jedoch mangelt es noch an (öffentlichen) nanotoxikologischen Informationen, anhand derer Modelle korrekt beurteilt und ihr Anwendungsbereich ausgeweitet werden kann. Als Folge kann die mögliche Schädlichkeit eines Nanomaterials mit aktuellen Modellen nur vorläufig beurteilt werden. Weitere Laborversuche (und möglicherweise Tierversuche) sind anschließend notwendig, um die Giftigkeit eines gegebenen Nanomaterials zu bestätigen oder auszuschließen. Würden Sie Wissenschaftlern zustimmen, die behaupten, dass eine vollständige Abkehr von Tierversuchen für die nanotoxikologische Untersuchung nicht möglich ist? Derzeit lautet die Antwort ja. Tierversuche sind notwendig, um die Sicherheit nanotechnologischer Produkte garantieren zu können, insbesondere in Bezug auf medizinische Anwendungen. Die Entwicklung verlässlicherer Laborprüfungen in Kombination mit rechnergestützten Tools könnte jedoch dazu beitragen, die Anzahl der zu Versuchszwecken eingesetzten Tiere wesentlich zu verringern. Doch bald werden wir durch steigende Rechenleistung und tieferes Wissen über Nano-Bio-Wechselwirkungen die Interaktionen zwischen Nanopartikeln und biologischen Systemen akkurat simulieren können. Und dann lassen sich Tierversuche möglicherweise vollständig ersetzen. Was sind für Sie bis heute die wichtigsten Erkenntnisse aus Ihrer Forschung? Die erste und wichtigste Lehre für uns war, dass unser Wissen und unsere Modellierungskapazität in Bezug auf Nanotoxizität noch weit von dem entfernt ist, was für die chemische Toxizität möglich ist. Wir müssen die nanotoxikologischen Mechanismen und Wirkungsweisen noch viel besser verstehen. Zudem sind die verfügbaren Daten für die Modellentwicklung – und noch viel wichtiger, für die Modellvalidierung – noch sehr begrenzt, wenn man sie mit den Daten vergleicht, die für Chemikalien zur Verfügung stehen. Der Entwicklung nanotoxikologischer Computertools stehen noch viele Herausforderungen entgegen, und die begrenzte Datenverfügbarkeit ist nur einer der behindernden Faktoren. Auch eine Nomenklatur zur eindeutigen Beschreibung der Nanomaterialien muss dringend ausgearbeitet werden; standardisierte Protokolle der nanotoxikologischen Prüfung müssen entwickelt werden; Protokolle für hochdurchsatzfähige Prüfstände und die verbundene Datenvorverarbeitung sind erforderlich, um ausreichend Daten zu generieren, um aktuelle Computermodelle zu erweitern und zu verbessern; und Methoden für die Gefahren- und Risikobewertung sowie die Entscheidungsfindung müssen erstellt werden. Was möchten Sie noch erreichen, bevor das Projekt im Dezember abgeschlossen wird? Derzeit evaluieren wir die Voraussagefähigkeit der Deskriptoren für quantenchemische Eigenschaften und molekulare Modellierung der bisher von uns entwickelten Metalloxid-Nanopartikel. Darüber hinaus werden die rechnergestützten Verfahren zur Erstellung der Nanodeskriptoren verbessert, um strukturelle Veränderungen wie zum Beispiel Metalldotierung zu berücksichtigen. Gleichzeitig nutzen wir Informationen, die wir aus der Nanopartikelkategorisierung ziehen, um auf Grundlage einer Sammlung kategoriespezifischer Nano-QSAR nanotoxikologische Ensemble-Modelle zu entwickeln. Die von diesen Modellen gelieferten Informationen werden dann in einer abschließenden Phase genutzt, um Gefahren einzuschätzen und vorläufige Risikobewertungstools für Nanomaterialien zu erhalten. Weitere Informationen erhalten Sie unter: MODERN-Projektwebsite

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