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Inhalt archiviert am 2023-03-24

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Was die Wissensgesellschaft von den Jägern und Sammlern lernen kann

Im Rahmen eines von der EU finanzierten kulturübergreifenden Projekts zeigte ein Forschungsteam auf, wie traditionelles Wissen, über das häufig nur einzelne Personen in einer Gesellschaft verfügen, doch der ganzen Gemeinschaft zugute kommt.

Unsere heutige Gesellschaftsform wird häufig als „Wissensgesellschaft“ bezeichnet, in der das Humankapital durch die Gewinnung, Speicherung, den Austausch und die Anwendung von Informationen stetig wächst. Gleichzeitig hat die Forschung in industrialisierten Ländern gezeigt, dass infolge des ungleichen Zugangs auf diese Wissenssysteme (häufig aufgrund von Bildungsbarrieren) nur wenige davon profitieren. Professorin Reyes-García vom Institut de Ciència i Tecnologia Ambientals der Universitat Autònoma de Barcelona (ICTA-UAB) zufolge wurde bei diesen Studien jedoch „nicht berücksichtigt, wie wichtig die Wissensweitergabe und die Zusammenarbeit für das Verständnis der adaptiven Struktur von Wissen möglicherweise ist.“ Tatsächlich weist ein Professor des Katalanischen Instituts für Forschung und Höhere Studien ICREA (Catalan Institution for Research and Advanced Studies) darauf hin, dass insgesamt ein Mangel an empirischer, vergleichender Forschung besteht, die sich damit befasst, inwieweit die Kultur einer Gesellschaft die Wissensbildung in dieser beeinflusst. In einem Zeitalter, in dem viele Probleme wie der Klimawandel gemeinsame Anstrengungen erfordern, könnte es von entscheidender Bedeutung sein, diesen Prozess der Wissensanpassung zu verstehen. Zusammen mit ihrem Team hat sich Professorin Reyes-García nun mit dem traditionellen Wissen (Local Environmental Knowledge, LEK) von indigenen Völkern auseinandergesetzt. Im Rahmen dieses LEK-Projekts hat sich das Team primär mit der Bedeutung des LEK für die heutige „Wissensgesellschaft“ befasst, daneben aber auch mit den Auswirkungen, die Strategien zur biologischen Vielfalt in tropischen Wäldern auf die Lebensgrundlage von indigenen Völkern haben. Bahnbrechende Studie zu traditionellem Wissen Während man sich in bisherigen LEK-Studien üblicherweise auf ein bestimmtes Umfeld konzentriert hatte, sodass Verallgemeinerungen schlecht möglich waren, haben die Teilnehmer dieses Projekts drei Jäger- und Sammlervölker betrachtet, und die dynamische Struktur ihres traditionellen Wissens analysiert: die Tsimané (ein Jäger- und Sammlervolk, das einfache Landwirtschaft betreibt und im Amazonas-Gebiet Boliviens lebt), die Baka (halbnomadische Jäger und Sammler aus dem Kongobecken) und die Punan Tubu (ein Jäger- und Sammlervolk, das auf Borneo lebt). Ausschlaggebend bei der Wahl dieser Gesellschaften war deren relative Unabhängigkeit von formalen Wirtschafts-, Bildungs- und Gesundheitssystemen. Die Forscher lebten eineinhalb Jahre in diesen Gemeinschaften und erfassten mit einer Reihe von verschiedenen Instrumenten sowohl qualitative Daten (Interviews) als auch quantitative Daten (bspw. durch GPS-Aufzeichnung). Um möglichst aussagekräftige Ergebnisse zu erzielen, wählte das Team für die Analyse traditionellen Wissens in Bezug auf essbare Wildpflanzen, Heilpflanzen, Landwirtschaft und das Jagen eine investigative Methode, die einerseits kulturspezifisch war, sich andererseits aber auch für Vergleiche mit Daten zu anderen Kulturen eignete. Das Team setzte unter anderem auf multivariate Analysemethoden für Schätzungen zur Wissensanpassung in Bezug auf (i) Gesundheit, (ii) Nährwerte und (iii) Produktivität in der Landwirtschaft und beim Jagen und Sammeln. Auf Basis der erfassten Daten konnten dann allgemeine Rückschlüsse in Bezug auf die Vorteile der Wissensweitergabe und die Umstände gezogen werden, unter denen das Wissen angepasst oder nicht angepasst werden kann. Die Studien in diesen kleinen Gesellschaften zeigten, dass deren traditionelles Wissen zur Verbesserung der Gesundheit, dem Ernährungszustand, dem Biodiversitätsmanagement und der nachhaltigen Landwirtschaft beitrug. Dies wirkt sich entscheidend auf Erhaltungsstrategien aus. So zeigte die Studie unter anderem, dass Gesellschaften mit einem hohen Maß an traditionellem Wissen die Auswirkungen des Klimawandels auf ihre lokalen Ökosysteme eher erkannt haben. Dies ist eine wichtige Erkenntnis für Wissenschaftler, die die effektive Anpassung von Wissen erforschen. Wenn wir traditionelles Wissen außen vor lassen, „müssen die Gesellschaften ein komplexes System an adaptiven Reaktionen auf Veränderungen vollständig neu erfinden“, so Prof. Reyes-García. Was politische Maßnahmen angeht, so wird häufig jeglicher Zugriff der Menschen auf natürliche Ressourcen verboten, um umweltschädliche Praktiken wie die Abholzung zu unterbinden – selbst dann, wenn diese Ressourcen den Lebensunterhalt der davon betroffenen Menschen darstellen. Da indigene Völker jedoch von den Ressourcen der tropischen Wälder abhängig sind (für Nahrung, medizinische Versorgung und Schutz) und daher ein Interesse an einem nachhaltigen Umgang mit diesen Ressourcen haben, sind diese Völker doch eigentlich die perfekten Wächter dieser Wälder. Die Projektteilnehmer empfehlen daher einen biokulturellen Ansatz, der die Kultur und Probleme der indigenen Gesellschaften miteinbezieht und die Weitergabe von Wissen von Generation zu Generation fördert. Weitergabe von Wissensvorteilen als potenzielle Anpassungsstrategie von Gesellschaften Die wohl wichtigste Erkenntnis dieses Projekts war die, dass auch wenn das Wissen innerhalb der Gemeinschaften zwar nicht gleichmäßig verteilt ist, doch alle Mitglieder gleichermaßen von ihm profitieren. So zeigte sich bspw., dass der Ernährungszustand der insgesamt gebildeteren Mitglieder der Gemeinschaft nicht zwangsweise entsprechend besser war als der der anderen Mitglieder. Dies mag auf den ersten Blick vielleicht paradox erscheinen, doch die Studie zeigte, dass der Grund hierfür in der Wissensweitergabe, der Zusammenarbeit und dem Zusammenhalt innerhalb dieser Kulturen liegt. Prof. Reyes-García zufolge „bieten uns diese Erkenntnisse nicht nur tiefere Einblicke in bisher vernachlässigte Wissenssysteme, sie zeigen uns auch neue Wege für den Erwerb und die Anwendung von Wissen auf.“ Zudem weist sie darauf hin, dass die Ergebnisse ihres Teams angesichts der Investition in Programme wie „Science with and for Society“ seitens der EU „verdeutlichen, dass politische Entscheidungsträger die Strategien zur Förderung der Informationsweitergabe und der Verbreitung wissenschaftlicher Erkenntnisse in der Gesellschaft stärker unterstützen müssen, um deren Vorteile für die Gesellschaft zu maximieren und neue Möglichkeiten zu schaffen, die die Weitergabe von traditionellem Wissen und wissenschaftlichen Erkenntnissen an politische Entscheidungsträger auf jeglicher Ebene vereinfachen.“ Obwohl dies über die Aussagefähigkeit der in ihrem Projekt gewonnenen Daten hinausgeht, ist Prof. Reyes-García dennoch der Ansicht, dass es sich lohnen wird, die These eingehender zu betrachten, dass die Bildung eines insgesamt umfassenderen gemeinsamen Wissens (auch wenn auf Kosten des Individuums) eine adaptive Strategie für Gemeinschaften darstellen könnte. Weitere Informationen finden Sie auf: Projektwebsite

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Spanien

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