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Inhalt archiviert am 2024-04-18

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Wie innovative persönliche Technologie Menschen mit affektiven Störungen helfen kann

Smartwatches und Fitnessarmbänder können uns mehr über unsere Herzfrequenz oder unseren Stresspegel verraten. Menschen mit schweren affektiven Störungen profitieren davon jedoch kaum. Im Rahmen des Projekts AffecTech wurden verschiedene tragbare Technologien entwickelt, die Betroffene nicht nur warnen, sondern ihnen auch die Möglichkeit geben, bei einer Episode entsprechende Gegenmaßnahmen zu ergreifen.

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Jetzt, wo wir einen Vorgeschmack auf den Frühling bekommen und großflächige COVID-19-Impfungen bevorstehen, ist es auch an der Zeit, zurückzublicken und Bilanz darüber zu ziehen, wie sich fast ein Jahr Lockdown auf die Bevölkerung Europas ausgewirkt hat. Neben den vielen Konkursen, dem Verlust von Arbeitsplätzen und manchmal auch dem Verlust geliebter Menschen kristallisiert sich ein eindeutiger Trend heraus: Isolierung und das Fehlen von menschlichen Kontakten verursachen enormen psychischen Stress, wobei affektive Störungen mittlerweile allgegenwärtig sind. Corina Sas von der Universität Lancaster war schon lange vor COVID-19 der Überzeugung, dass dieses Problem angegangen werden muss. Als das Projekt AffecTech (Personal Technologies for Affective Health) 2017 gestartet wurde, warnte sie davor, dass beispielweise Stress, Depressionen und bipolare Störungen bis 2020 zu den häufigsten Krankheitsursachen zählen würden. Sie und ihre Partner waren sich jedoch auch sicher, dass persönliche Gesundheitstechnologien Abhilfe schaffen könnten. In den letzten vier Jahren hat das AffecTech-Konsortium an neuen, kostengünstigen tragbaren Geräten für Menschen gearbeitet, die von diesen Erkrankungen oder Störungen betroffen sind. Dabei wollte es vor allem den Sprung von Überwachungstechnologien wie Smartwatches und Fitnessarmbändern zu Alternativen wagen, mit denen sich Patientinnen und Patienten eigenverantwortlich um ihre Krankheit kümmern können.

Warum sollten Technologien in Verbindung mit affektiven Störungen Ihrer Meinung nach dringend weiterentwickelt werden? Welche Schwierigkeiten wollten Sie mit diesem Projekt hauptsächlich überwinden?

Corina Sas: Dass Technologien einen entscheidenden Wert für die psychische Gesundheit haben, ist nicht neu. Durch frühe Selbsthilfe-Websites, computergestützte Systeme für die kognitive Verhaltenstherapie oder auch Systeme für virtuelle Realität, mit denen man im Rahmen einer Behandlung von Angststörungen mit Ängsten konfrontiert wird, ist das auch schon seit Langem bekannt. Vor rund zwei Jahrzehnten haben sich persönliche Gesundheitssysteme weg von PC-gestützten Interventionen hin zur physiologischen Überwachung entwickelt, die meistens bei der Behandlung von Herzerkrankungen oder Diabetes eingesetzt wurden. Dennoch kann die physiologische Überwachung durch Biosensoren, die zum Beispiel die galvanische Hautreaktion oder die Herzfrequenz messen, auch zum Erfassen emotionaler Reaktionen genutzt werden. Alltagstaugliche Technologien haben enorm an Bedeutung gewonnen: Unsere Smartphones oder Smartwatches können beispielweise Biodaten aufzeichnen, die mit emotionalen Erlebnissen in Verbindung stehen und affektive Störungen verursachen könnten. Wir müssen nur herausfinden, wie wir über die Überwachung emotionaler Reaktionen hinausgehen und sie aktiv steuern können. Und genau das ist das Ziel des Projekts AffecTech: die Gestaltung und Entwicklung neuartiger persönlicher Technologien, mit denen Menschen nicht nur ihre Emotionen überwachen, sondern sie auch verstehen und vor allem lernen können, wie sich entsprechende emotionale Reaktionen auf adaptive Art und Weise steuern lassen.

Erzählen Sie uns bitte mehr über die Technologien, die Sie entwickelt haben. Was macht sie so innovativ?

Wir haben verschiedene Technologien als Forschungsprototypen entwickelt. Darunter fallen zum Beispiel Geräte, die am Handgelenk getragen werden und mit Biosensoren ausgestattet sind, welche die Transpiration oder Herzfrequenz messen, und über Aktoren verfügen, die farb-, vibrations- oder temperaturbezogenes Biofeedback geben. Bei einem erhöhten Stresspegel sehen die Nutzerinnen und Nutzer also diese Rückmeldungen sofort oder spüren sie auf der Haut, wodurch sie sich der Problematik bewusst werden. Außerdem haben wir Schnittstellen untersucht und entwickelt, die entsprechendes Biofeedback geben, wodurch die Menschen ihre Herzfrequenz senken oder sich beruhigen können. Diese Technologien haben Anerkennung vom Innovation Radar der Europäischen Kommission erhalten. Innovativ sind sie, weil wir kostengünstige intelligente Materialien wie thermochrome Farben als Aktoren genutzt haben, die sich die Nutzerinnen und Nutzer selbst zusammenstellen können, um personalisierte affektive Schnittstellen zu erstellen. Ein weiteres Beispiel sind tragbare Geräte mit EEG-Sensoren, die dezentes vibrations- oder temperaturbasiertes Biofeedback geben und so Achtsamkeitstraining fördern. Das Neuartige an diesen Technologien ist die Wahl der haptischen Aktoren und das Design des Neurofeedbacks, das auf körperlichen Metaphern meditativer Zustände beruht. Eine weitere Neurofeedback-Technologie ist unser Anima-Prototyp, der zwei Tafeln und EEG-Sensoren umfasst und so dezentes visuelles Feedback zu den Meditationszuständen gibt.

Können Sie ein oder zwei konkrete Beispiele für mögliche Anwendungen geben?

Alle unsere Prototypen können im Alltag genutzt werden, etwa bei emotionsgeladenen Unterhaltungen, Zusammenkünften oder herausfordernden Tätigkeiten. Sie sollen ein subtiles Bewusstsein für Gefühle schaffen und Menschen durch rhythmische Vibrationen helfen, sich zu beruhigen. Dank des thermischen Neurofeedbacks für den Körper können sie auch bei kurzen Pausen und Meditationssitzungen eingesetzt werden, um den Fokus wieder auf die Gegenwart zu legen.

Wie gingen Sie beim Testen der Technologie vor und was kam dabei heraus?

Unsere Forschungsprototypen wurden in kleineren Studien validiert. Außerdem planen wir größere Studien mit Personen, die von affektiven Störungen betroffen sind. Erste Ergebnisse konnten bestätigen, dass die Nutzerinnen und Nutzer dadurch ein stärkeres emotionales Bewusstsein erlangen und sich umfassend mit der Technologie auseinandersetzen.

Was erachten Sie rückblickend als die größten Errungenschaften des Projekts?

Neben den vielen Technologien, die wir untersucht, gestaltet und entwickelt haben, ist auch die hervorragende Qualität unserer wissenschaftlichen Publikationen ein großer Erfolg. Während der vier Jahre andauernden Projektarbeit hat AffecTech 129 wissenschaftliche Publikationen verfasst, darunter 43 Abhandlungen in einflussreichen Fachzeitschriften wie „Nature“, „JMIR“, dem „Journal of Anxiety Disorders“ und „Systematic Reviews“, die sich mit den wichtigsten Höhepunkten befassten. Das Konsortium veröffentlichte außerdem 17 Schriften auf Vorzeigekonferenzen der ACM, wie der „Conference on Human Factors in Computing Systems“ (CHI) mit 11 Beiträgen und der „Designing Interactive Systems“ (DIS) mit sechs Beiträgen. Sechs der 17 Abhandlungen wurden mit dem „Honorable Mention“ Ehrenpreis ausgezeichnet. Die Technologien von AffecTech haben außerdem Anerkennung beim Innovationsradar-Preis der Europäischen Kommission erhalten. Darüber hinaus haben wir mit Philips Research ein Patent angemeldet: Für ein Verfahren und ein System zur Beurteilung der Schwere einer Depression durch die Analyse von MRT-Scans in Verbindung mit Verzerrungen bei der Wahrnehmung des Gesichtsausdrucks. Ein anderes positives Ergebnis des Projekts ist die sehr erfolgreiche Verbreitungs- und Kommunikationsstrategie. Wir konnten 14,25 Millionen Menschen über Rundfunk-, Online- und Printmedien im Vereinigten Königreich, Europa und auf der ganzen Welt erreichen.

Das Projekt wird bald beendet sein. Welche voraussichtlichen Pläne haben Sie im Anschluss daran?

Wir möchten mit interessierten Unternehmen und Investoren zusammenarbeiten, mit deren Hilfe unsere Prototypen in die nächste Phase gebracht werden können, die für den Markt notwendig ist.

Schlüsselbegriffe

AffecTech, Smartwatch, Fitnessarmband, persönliche Gesundheitstechnologie, affektive Störungen, Stress, Depressionen, Verhaltenstherapie, tragbares Gerät, Biofeedback, Sensoren