Colette Flesch, Generaldirektorin der GD X, zur Rolle Europas in der Informationsgesellschaft
Auf der Konferenz "Amplifying the Value of Technology and Global Businesses: Being Big and Small at the Same Time", die von CSC Vanguard am 11. und 12. Juli 1995 in Genf veranstaltet wurde, hielt Colette Flesch, Generaldirektorin der GD X (Information, Kommunikation, Kultur, Audiovisuelle Medien), einen Vortrag zur Rolle Europas in der Informationsgesellschaft. Bei CSC Vanguard handelt es sich um einen weltweit operierenden Forschungs- und Beratungsdienst, der Führungskräfte und Entscheidungsträger in den fortgeschrittensten Unternehmen der Welt bei der Meisterung der neuesten Informationstechnologien und ihrer gewinnbringenden Umsetzung unter dem Aspekt unterstützt, daß diese Informationstechnologien einen grundlegenden Wandel im Geschäftsablauf bewirken werden. Damit trägt CSC Vanguard dazu bei, in den Unternehmen ein besseres Verständnis dessen zu erlangen, was sich an strategischen Folgen aus den neuen Informationstechnologien in der Wirtschaft ergibt. Der Vortrag von Colette Flesch stand unter der Überschrift "Lehren aus dem Bestehen von Nationalstaaten". Im folgenden ein Auszug aus ihrer Rede. "Ich glaube, bei der Informationsgesellschaft handelt es sich um ein weltweites Phänomen, bei dem eines der Hauptziele im Verschwinden von Grenzen liegen muß. Ich werde mich also mit der Rolle Europas in der Informationsgesellschaft beschäftigen. Außerdem werde ich auf einige der politischen, physischen, technischen, sozialen, wirtschaftlichen, psychologischen und philosophischen Grenzen zu sprechen kommen, von denen ich meine, daß sie ebenfalls verschwinden müssen. Den Hintergrund meiner Ausführungen bilden natürlich meine persönlichen Erfahrungen und die Aufgaben der Europäischen Kommission. Im Mittelpunkt wird also die spezielle Rolle stehen, die die EU, ihre Institutionen, die Mitgliedstaaten, die Sozialpartner und die Bürger in der globalen Informationsgesellschaft spielen können. Ich möchte sogar meinen, daß Europa hier und dort doch einiges beitragen kann, auch wenn es oft heißt, daß die Bedeutung, die Europa in dieser Beziehung hat, im Vergleich zu den USA und dem Pazifikraum im Abnehmen begriffen ist. Zu dieser Sichtweise ist es vielleicht ganz nützlich, darauf hinzuweisen, daß wirklich umwälzende Revolutionen selten mit dem Ergebnis enden, das ihre Führer bezweckten und die Beteiligten sich vorstellten. All die Dinge, die auf den Schreibtischen der Bürokratie zu tun sind, stellen im Grunde genommen die größten Hindernisse für die Schaffung eines gemeinsamen Marktes von Waren, Dienstleistungen und Kapital dar. Diese Hindernisse müssen durch Zusammenarbeit der Verwaltungen beseitigt und ein effizientes, zuverlässiges und benutzerfreundliches System der Kommunikation und des Datenaustauschs zwischen Verwaltungen ersetzt werden. Sechs, später sieben der 15 Mitgliedstaaten unterzeichneten ein Abkommen, den Schengener Vertrag, mit dem Ziel, schneller voranzukommen und die Grenzkontrollen schneller abzubauen. Dies führte am 26. März 1995 zu dem, was gelegentlich als "Schengenland" bezeichnet wird. Die Umsetzung des Schengener Vertrags verzögerte sich um Monate, ja Jahre, weil das Zusammenwirken der Informationssysteme zwischen den Verwaltungen, deren Aufgabe die Bekämpfung von Verbrechen, Terrorismus und Drogenmißbrauch ist, nicht ordnungsgemäß funktionierte. Was hier auf dem Spiel steht, ist allerdings mehr als nur eine Frage von Hard- und Software. Es geht, einfach ausgedrückt, um Vertrauen, die deutsche Polizei muß der französischen Polizei vertrauen. Grenzen bestehen ja auch in den Köpfen ... Aus dieser Analyse ergibt sich zunächst, daß die Schaffung der Infrastruktur an erster Stelle steht, mit der durch die Schaffung der transeuropäischen Netze im Verkehrs-, Energie- und Telekommunikationsbereich ein Markt von gegenwärtig 370 Millionen Verbrauchern bedient werden kann. Mit der Vollendung des Binnenmarkts ergab sich für die EU ein breites Spektrum zusätzlicher psychologischer, kultureller und sprachlicher Schwierigkeiten. So mußte die EU beispielsweise ein nicht unbedeutendes Programm im Bereich Harmonisierung und Normung umsetzen, das von einigen fälschlicherweise als kaum meisterbar und zu bürokratisch angesehen wurde. In Wirklichkeit ist es jedoch zu einer Vereinfachung gekommen, weil sechs, neun, 12 und dann 15 unterschiedliche und manchmal einander widersprechende Normen und Vorschriften durch einheitliche, unionsweit geltende Normen und Vorschriften ersetzt wurden. Der Markt gestaltet sich heute so attraktiv, daß Nachbarländer, die den Kriterien für eine EU-Aufnahme noch nicht entsprechen, und Nachbarländer, die der Meinung sind, daß die Elemente der europäischen Integration, die über den reinen Markt hinausgehen, ihre Bedürfnissen nicht entsprechen, nichtsdestotrotz unbedingt Teil des durch die EU eröffneten europäischen Wirtschaftsraums sein möchten. In dem Maße, wie die Handelspartner Europas sich der zunehmenden Wirtschaftskraft der EU bewußt werden und eine Ausdehnung ihres eigenen Marktes anstreben, werden sie auch zu der Feststellung gelangen, daß die neuartigen Erfahrungen Europas bei der Bewältigung der Probleme aufgrund des Bestehens unterschiedlicher Kulturen und Sprachen und beim Abbau zwischenstaatlicher und interregionaler Barrieren auch dazu beitragen hat, die "Alte Welt" von der Langsamfahrspur auf die Überholspur zu bringen. Der Europäische Rat von Korfu stimmte den Schlußfolgerungen des Bangemann-Berichts zu den zehn Gebieten, die im allgemeinen Interesse liegen, zu, so daß die Europäische Kommission ihren Aktionsplan "Europas Weg in die Informationsgesellschaft" auf den Weg bringen konnte. Das von der Kommission eingesetzte Projektbüro für die Informationsgesellschaft legt in regelmäßigen Abständen Berichte zum jeweiligen Stand der Durchführung des Plans vor, aus denen die gemachten Fortschritte jederzeit aktuell entnommen werden können. Zwischen Korfu und der Veröffentlichung des Aktionsplans fordert der G-7-Gipfel in Neapel im Juli 1994 die Europäische Kommission dazu auf, am 25. und 26. Februar 1995 in Brüssel eine Ministerkonferenz der G-7-Länder zur globalen Informationsgesellschaft zu veranstalten. Die G-7-Tagung in Brüssel leistete einen bedeutenden Beitrag zur Sensibilisierung der Allgemeinheit gegenüber dem Inhalt der Informationsgesellschaft, den sich daraus ergebenden Chancen und den Möglichkeiten zur Nutzung ihrer Vorteile. In den Schlußfolgerungen dieser Tagung war die Rede von "einer gemeinsamen Vision der Bereicherung des Lebens der Menschen", außerdem wurden elf Vorhaben bestimmt, bei denen die internationale Zusammenarbeit als vorteilhaft eingeschätzt wurde. Die ersten Berichte zum Stand der Projektdurchführung wurden auf dem G-7-Gipfel in Halifax im vergangenen Monat vorgelegt. Im Rahmen der Europäischen Kommission liegt die Durchführung des von Martin Bangemann initiierten und Hektik verursachenden Programms - ohne Hektik geht es nicht, wenn mit dem Tempo, mit dem die Entwicklung vorangeht, Schritt gehalten werden soll - in der Verantwortung verschiedener Dienststellen der Kommission bzw. der Generaldirektionen. Die Umsetzung des Aktionsplans bezieht sich auf mehr als sechzig Themen auf Gebieten vom ordnungspolitischen und rechtlichen Rahmen bis hin zu den Netzen und Grunddiensten (Anwendung und Inhalt) sowie sozialen und kulturellen Fragen. Angesichts der Tatsache, daß der Benutzerdimension in der Informationsgesellschaft ausschlaggebende Bedeutung zukommt, ist es für die Kommission von Wert, daß zu meiner Generaldirektion Referate gehören, die auf dem Gebiet von Meinungsumfragen, Medienunterstützung und Bibliotheksdiensten tätig sind. Die Kommission muß ebenso wie alle anderen, die die Informationsgesellschaft vorantreiben, wissen, wonach die Bürger, Journalisten und Nachfrager nach Informationen tatsächlich suchen und was sie von der Zukunft erwarten. Die Informationsmenge über die Informationsgesellschaft, ganz abgesehen von der Menge an Informationen, die durch die Informationsgesellschaft bereitgestellt werden, ist enorm. Daher ist den Fertigkeiten und Verfahren, die zur Bestimmung, Zusammenfassung und Weiterleitung von qualitativ hochwertigen Informationen an unterschiedliche und auf verschiedenen Ebenen tätige Forscher und Entscheidungsträger benötigt werden, erheblich mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Wer an der Bereitstellung des entsprechenden Zugangs zu entsprechenden Informationen für den Nachfragenden oder Endnutzer beteiligt ist, sollte im Geiste von Offenheit und Demokratie tätig werden. Innerhalb einer Gesellschaft kann man sich leicht vorstellen, daß die Teilhabe an der Informationsgesellschaft zum Privileg wird. Zwischen Gesellschaften besteht die Befürchtung, daß die Informationsgesellschaft wieder einen Schritt weiter für die entwickelte Welt bedeutet, während die Entwicklungsländer in ihren Bestrebungen um eine gerechtere Einbeziehung in die globalen Ressourcen weiter zurückgeworfen werden. Hier tut sich die Gefahr neuer Grenzen auf, neuer "Grenzen" zwischen oben und unten, zwischen arm und reich. Hier sehen wir uns als Gesellschaft einer der größten Herausforderungen gegenüber, denn das darf nicht geschehen. Ob im Rahmen der EU oder im Rahmen der G-7, Konferenzerklärungen, in denen von "einer Informationsgesellschaft für die Menschen" die Rede ist, dürfen nicht zu leeren Phrasen verkommen. Die Herausbildung der Informationsgesellschaft wird auch weiterhin von den Unternehmen und vom Markt vorangetrieben werden. Aufgrund meiner besonderen Einbeziehung in den audiovisuellen Sektor der Informationsgesellschaft bin ich mir durchaus der Tatsache bewußt, daß der Markt nicht nur aus dem Hersteller und dem Anleger besteht. Die audiovisuelle und die Multimediatechnologie trifft auf dem Markt auf eine weite Spanne unterschiedlicher Reaktionen der Verbraucher, und Fragen des Programminhalts rücken immer mehr in den Vordergrund. Aus der Art und dem Tempo der Fortschritte ergeben sich ebenfalls grundlegende Fragen, bezüglich derer meist Übereinkunft darüber besteht, daß sie in gewissem Maße ordnungspolitisch geregelt werden müssen, sei es nun der Schutz des kulturellen Erbes, Respektierung der Rechte an geistigem Eigentum, Fragen des Verleumdungsrechts, oder Schutz von Kindern vor Pornographie und Gewalt. Ich nenne diese Fragen nicht, weil ich glaube, daß die Kultur oder der Erfindungsgeist Europas über denen anderer steht oder weil ich besonders restriktiv vorgehen will. Ich wende mich diesen Fragen zu, weil es sich um konkrete Fragen handelt, die nicht nur die Wirtschaft und den Markt betreffen. Einige Zeit wird vergehen, ehe man an die Lösung dieser Fragen geht, doch diese Aufgabe muß in Angriff genommen werden, wenn es nicht zu neuen Barrieren kommen soll. Sicherlich sind wir alle dafür, daß die Kunstschätze Europas weltweit zugänglich werden, doch dabei darf der Aufwand, der jedes Jahr für die Erhaltung und den Schutz betrieben werden muß, mit berücksichtigt werden. Wir müssen alle dafür sein, daß Schriftsteller für ihre Kreativität und Wissenschaftler für ihr Talent auch entlohnt werden, doch Entwicklungen beim Erlaß von Vorschriften im Urheberbereich, mit denen die Art und des Weise des Zugangs zu Bibliotheken, wie ihn Schriftsteller und Wissenschaftler gegenwärtig haben, eingeschränkt wird, dürfen nicht zugelassen werden. Was den audiovisuellen, Multimedia- und interaktiven Zugang zu gewalttätigem, pornographischem und ähnlichem Material betrifft, so scheint die Übereinstimmung nicht in demselben Maße zu bestehen. Meiner Meinung nach haben die Vertreter der Politik in Europa recht, wenn sie darauf bestehen, daß die Behandlung dieser schwierigen Zugangsfragen in dem Moment auf transnationaler Ebene angegangen werden muß, in dem der Zugang transnational wird. Eine Einigung auf transnationaler und globaler Ebene zu erzielen wird nicht einfacher sein, als eine Einigung im nationalen Rahmen zu erzielen, doch müssen wir uns dieser Frage stellen, man kann sie nicht einfach beiseite schieben. Manchmal kann das Nichtanpacken eines Problems auch zu mehr Unterschieden führen, als dies bei einer Inangriffnahme der Fall ist. Die Zukunft der Informationsgesellschaft muß so aussehen, daß sie auf der Grundlage der wirklichen Bedürfnisse der Menschen gestaltet wird und die Menschen sicht nicht plötzlich einer Technologie gegenübersehen, für die die Wirtschaft international entschieden hat, daß sie Platz Nr. 1 des Marktes einnehmen soll. Damit stelle ich mich nicht gegen die Branche und stemme mich auch nicht gegen die Kräfte des Marktes, es geht mir darum, daß die Informationsgesellschaft so wichtig ist, daß jeder einbezogen werden muß. Auf beiden Seiten des Atlantiks denkt man über diese Fragen ziemlich viel nach. Es ist genauso wichtig, daß die Gedanken und Schlußfolgerungen all dieser Beratungsgremien und Konsultationsforen so verbreitet und Allgemeingut werden müssen, wie es wichtig ist, daß die Erkenntnisse aus Hunderten von Forschungsvorhaben und Pilotversuchen im Zusammenhang mit der Informationsgesellschaft für jedermann leicht zugänglich sind. Nicht wenige reagieren auf solche Aufrufe nach Offenheit, Einbeziehung und Verbreitung mit der Antwort, daß das Internet das geeignete Medium dafür sei. Ja, das ist eine Antwort, und die Europäische Kommission nutzt es ja auch. Doch sei gleichzeitig darauf verwiesen, daß der Internet-Zugang eine Investition erfordert, die nicht jeder überall auf der Welt sich leisten kann, daß die Internet-Nutzer noch kein typisches Spiegelbild der Gesellschaft insgesamt sind, zumindest nicht Europa, von anderen Teilen der Welt ganz zu schweigen. Es sei auch darauf verweisen, daß das Internet Probleme der Sicherheit und des Urheberrechts nach sich zieht, und daß es viele gibt, die der Meinung sind, daß es ohne stärkere Regulierung nicht weiterbetrieben werden kann. Interessanterweise ist festzustellen, daß es im Verlaufe der Diskussion dieser Fragen schnell zur Konfrontation kommen kann, zur Konfrontation beispielsweise mit dem jungen Computer-Freak, der die Diskussion um Regulierung als Generationsproblem ansieht, zur Konfrontation auch mit Visionären, die sich schon im Cyberspace der virtuellen Realität sehen und der Meinung sind, daß die Ingenieure und Techniker, die sich hauptsächlich mit der Schaffung einer Infrastruktur für einen größeren Zugang zum Fernsehen und zu Kommunikationsdiensten beschäftigen, mangels Vorstellungskraft das schnelle Erreichen einer wahrhaft transformierenden Informationsgesellschaft ver- oder behindern. Solche Konfrontationen können leicht Teil dessen werden, was von vielen als der ewige Kampf zwischen groß und klein, zwischen David und Goliath dargestellt wird. Das Thema dieser Konferenz ist insofern klug gewählt, als daß man im Zusammenhang mit Technologie und im Geschäftsleben gleichzeitig sowohl in großen als auch in kleinen Kategorien denken muß. Im Mittelpunkt meines Ansatzes standen die Grenzen, die verschwunden sind und die verschwinden sollten, aber auch jene, die sich möglicherweise neu herausbilden. Soll ich das, was ich damit sagen will, in zwei Worten zusammenfassen, die als tägliche Maxime für all jene dienen sollen, die danach streben, die Informationsgesellschaft möglichst gut auszugestalten, so ist es das Motto eines berühmten Romans vom Anfang unseres Jahrhundert, das jetzt vielleicht besser im Zusammenhang mit einem ausgezeichneten europäischen Film bekannt ist. Ich verweise als auf E.M. Forsters "Howard's End", in dem es auf der Titelseite hieß: "Only connect..."