Europa braucht mehr als das FTE-Rahmenprogramm
Die Europäische Union werde mehr als nur das Rahmenprogramm brauchen, wenn es die Zielsetzungen des Gipfels von Lissabon erreichen will, um sich den Herausforderungen der neuen wirtschaftlichen Situation zu stellen und die wettbewerbsorientierteste und dynamischste wissensbasierte Wirtschaft der Welt zu werden. Dies ist die wichtigste Botschaft der jüngsten 5-Jahres-Bewertung des Rahmenprogramms für Forschung und technologische Entwicklung (FTE) der Europäischen Kommission. Der Gipfel von Lissabon habe die FTE-Politik in den Mittelpunkt der Entwicklungsstrategien der EU gerückt, sagte Joan Majó, Vorsitzender der unabhängigen Gruppe, welche die Bewertung durchgeführt hatte. Die Verbesserung und Verstärkung des Rahmenprogramms sei zwar erforderlich, jedoch nicht ausreichend. "Es...muß durch zusätzliche Instrumente ergänzt werden." Die Gruppe empfiehlt die Weiterführung des Rahmenprogramms nach einer im allgemeinen positiven Bewertung der letzten Phasen des Dritten, des größten Teils des Vierten und des Beginns des Fünften FTE-Rahmenprogramms der Kommission zwischen 1995 und 1999. Sie weist jedoch auf die Notwendigkeit größerer Reformen zur Vereinfachung der Teilnahme und zum Abbau des Verwaltungsaufwands für die Kommission hin. Ein wesentlicher Teil des Berichts der Gruppe befaßt sich mit den Bedrohungen für die industriellen und wissenschaftlichen Gemeinschaften Europas sowie mit den Maßnahmen, die sowohl auf der Ebene der EU als auch auf der Ebene der Mitgliedstaaten zu ergreifen sind. "Aus wirtschaftlicher Sicht besteht die größte Bedrohung darin, daß Europa im kommenden Jahrzehnt noch weiter hinter den anderen Wirtschaftsräumen zurückbleibt. Seitens der wissenschaftlichen Gemeinschaft wird befürchtet, daß Europa seine Position als Spitzenstandort für die Schaffung von Wissen einbüßt. Ich bin davon überzeugt, daß es sich bei diesen beiden Bedrohungen um ein und dieselbe handelt", so Majó. Da die FTE-Politik naturgemäß mit der Politik auf anderen Gebieten - vor allem Bildung und Innovation - verzahnt ist, empfiehlt die Gruppe Änderungen im Rahmen einer allgemeinen Strategie für Europa, "die auf EU-Ebene formuliert und von allen Mitgliedstaaten unterstützt wird". Dieser Vorschlag liegt vollständig auf der Linie aktueller Diskussionen über die Notwendigkeit eines Europäischen Forschungsraums, die zuvor in diesem Jahr durch eine Mitteilung des Europäischen Forschungskommissars Philippe Busquin ausgelöst worden waren. Während die Gruppe das Rahmenprogramm für seine allgemeinen Erfolge vor allem bei der Förderung der internationalen Zusammenarbeit und der Ausbildung von Forschern lobt, fordert sie einen breiteren Umfang des Programms. Um die Zielsetzungen von Lissabon und die Anforderungen der Erweiterung zu erreichen, empfiehlt die Gruppe: - weiterhin Gewicht auf die gesellschaftliche Bedeutung zu legen und Leitaktionen als Möglichkeit zur Bündelung von Programmen einzusetzen; - weiterhin gemeinsamen FTE-Projekten große Bedeutung zukommen zu lassen, die durch eine Reihe weiterer Maßnahmen ergänzt werden; - Gewicht auf Spitzenleistungen und die Teilnahme führender Forscher zu legen; - Teilnehmer zu ermutigen, "riskantere" Projekte vorzuschlagen; - verstärkte Maßnahmen zur Förderung der Mobilität von Forschern innerhalb und außerhalb der EU; - die Beibehaltung der Förderung für generische, kompetenzsteigernde FTE-Maßnahmen; - größeren Wert auf die zur Unterstützung anderer EU-Politiken notwendige Forschung zu legen. Die derzeitigen politischen Instrumente, die zur Förderung der Wissenschaft und Technologie zur Verfügung stehen, würden zur Zeit noch zu wenig genutzt, fügt die Gruppe hinzu und empfiehlt "eine gründliche Prüfung der Systeme und Verfahren zur Aufstellung allgemeiner Ziele, zur Angabe von Liefermechanismen und zur Umsetzung von Programmen". Ebenfalls im Sinne eines Europäischen Forschungsraums (EFR) empfiehlt die Gruppe weiterhin die Verabschiedung einer europäischen FTE-Strategie auf den "höchsten politischen Ebenen". "Die Regierungschefs sollten dann die Aufgabe der Formulierung und Umsetzung dieser Strategie der Europäischen Kommission übertragen, die dabei von einer angemessenen Konsultationsstruktur unterstützt wird." Obwohl dafür ein größeres Vertrauen der Mitgliedstaaten in die Kommission nötig sein dürfte, empfiehlt die Gruppe die Auflösung der Programmausschüsse. "Eine Prüfung des Managements und der Verwaltung des Rahmenprogramms sollte sich auf Wege zur Umgestaltung bestehender Strukturen und Verfahren konzentrieren, um die Verantwortlichkeit für Aufgaben auf niedrigere Ebenen innerhalb der Kommission zu übertragen bzw. diese nach außen zu verlagern." Zusätzlich rät die Gruppe, mehr Nachdruck darauf zu legen, daß das Rahmenprogramm seine Ziele erreicht, und für eine geringere "Überbetonung" der Verfahren zu sorgen. Die Gruppe ist sich jedoch bewußt, daß ihre Empfehlungen einige der Grundprinzipien der Tätigkeit der Europäischen Kommission als Ganzes in Frage stellen. Sie fordert daher die Unterstützung "der höchsten politischen Ebenen", eine Notwendigkeit, die sie besonders hervorhebt. Sie weist auch auf die Notwendigkeit höherer Investitionen in FTE hin. Der relative Umfang der Haushaltsmittel für Wissenschaft und Technologie im Vergleich zu anderen Politikbereichen müsse erhöht werden: "Der Prozentsatz des BIP, der in der EU für FTE im öffentlichen und privaten Bereich ausgegeben wird, muß in den kommenden zehn Jahren auf mindestens drei Prozent ansteigen." Indirekte Maßnahmen, wie steuerliche Anreize für FTE in der EU, könnten ebenfalls eingesetzt werden, um private Investitionen in die europäische FTE anzuziehen; ferner müßten dringend Maßnahmen gegen den für das kommende Jahrzehnt zu erwartenden Fachkräftemangel ergriffen werden. Die Kommission müsse auch bei der Vermeidung von Doppelarbeit im Forschungsbereich eine Rolle spielen. Die Erweiterung ist ein weiteres Schlüsselthema. Hier rät die Gruppe, die Unterstützung für die FTE-Aktivitäten der mittel- und osteuropäischen Länder vorläufig über die bestehenden wissenschaftlichen Akademien zu vergeben, "bis neue wettbewerbsfähige Strukturen für die Organisation von Wissenschaft und Industrie entwickelt werden können ... die Kommission [wird dringend gebeten] zu gewährleisten, daß innovationsbezogene Tätigkeiten ganz oben auf der Tagesordnung für Maßnahmen mit Unterstützung des Strukturfonds der Gemeinschaft und des Beitrittsfonds für die Bewerberländer stehen." Wenn die EU die weltweit führende Wissensgesellschaft werden will, braucht sie "eine wesentlich deutlicher formulierte europäische Strategie, welche die FTE-Politik mit Politiken anderer Bereiche verbindet", so die Schlußfolgerung des Berichts. "Dieser Bericht ist ein Beitrag zur Arbeit der Kommission und eine Bitte an die europäischen Staatschefs sowohl in der Union als auch in den Mitgliedstaaten, eine grundlegende Überprüfung ihrer Politik durchzuführen, die notwendig ist, um eine zusammenhängende Weiterverfolgung der in Lissabon abgegebenen Erklärungen umzusetzen." Joan Mayó drückt dies bei der Vorstellung des Berichts einfacher aus: "Neue Umstände erfordern neue Ziele. Und neue Ziele erfordern neue politische Instrumente."