Europäische Wissenschaftler klären Evolutionskontroverse anhand von Würmern
Wissenschaftler des Europäischen Laboratoriums für Molekularbiologie (EMBL) in Heidelberg arbeiten an einer Untersuchung, die, so die Wissenschaftler, zeigt, dass eine kleine Meeresringelwurmart eine komplexe Genstruktur aufweist, die der des Menschen ähnelt. Die Entdeckung, die kürzlich im Wissenschaftsmagazin "Science" veröffentlicht wurde, widerspricht damit der klassischen Theorie, dass die Evolution zu höheren Lebensformen an zunehmende Komplexität der genetischen Zusammensetzung gebunden ist. Die Forschung lässt darauf schließen, dass die grundlegende genetische Programmierung höherer Lebensformen so alt ist wie das Leben selbst. Laut den EMBL-Wissenschaftlern hatten die ersten Tiere Gene, die in ihrer Komplexität denen der Menschen glichen. Im Laufe der Evolution behielt die menschliche Spezies Merkmale dieser sehr alten Vorfahren, die in den sich schneller entwickelnden Tieren verloren gegangen sind. Wenn Wissenschaftler mehr darüber erfahren möchten, wie die frühen Tiere aussahen, betrachten sie sich normalerweise deren Nachfahren. Das stößt jedoch an Grenzen, wenn man nur entfernt verwandte Tiere wie Mensch und Fliege vergleicht. Dann ist es hilfreich, sich lebende Organismen zu betrachten, die viele Merkmale ihrer Vorfahren behalten haben. Die von Detlev Arendt geleitete EMBL-Gruppe konzentrierte sich auf einen kleinen Meeresringelwurm, den Platynereis dumerlii, und dessen Vorfahren aus dem Erdaltertum. Bis vor kurzem konnten solche Vergleiche nur gemacht werden, indem man sich physische Merkmale wie die Struktur der Knochen, der Zähne oder des Gewebes betrachtete. Heute ermöglicht die DNS-Sequenzierung den Wissenschaftlern jedoch, die genetischen Codes zu vergleichen und daraus die Evolutionsgeschichte abzulesen. Ein internationales Konsortium, dem Forscher des EMBL, aus dem VK, aus Frankreich und den USA angehören, hat deshalb einen Teil des Platynereis-Genoms sequenziert. Forscher Florian Raible, der die meisten Computeranalysen durchgeführt hat, erläutert: "Die Platynereis-Gene, die wir vergleichen konnten, sprechen eine deutliche Sprache. Die Gene des Meeresringelwurms ähneln menschlichen Genen in verblüffender Weise. Das ergibt ein ganz anderes Bild, als wir es bislang durch den Vergleich mit schnell evolvierenden Arten erlangen konnten." Dr. Raible war auch an einer Untersuchung beteiligt, die eine wissenschaftliche Kontroverse über die Evolution beenden könnte. Gene enthalten die Codes für die Proteinsynthese. 1977 wurde jedoch ein neues Phänomen entdeckt: Introns. Die arbeitenden oder exprimierten Segmente der Gene höher entwickelter mehrzelliger Pflanzen und Tiere, die sog. Exons, werden durch nicht codierende DNS-Sequenzabschnitte unterbrochen, die scheinbar keinen Zweck erfüllen. Introns tauchen fast nie in prokaryotischen Zellen auf und sind in einzelligen Eukaryoten sehr selten. Auch die Anzahl der Introns in Genen variiert in der Tierwelt stark: Während die Gene der Menschen viele Introns aufweisen, sind sie in weit verbreiteten Tiermodellen wie Fliegen seltener. Diese Tatsache hat einige Wissenschaftler zu der Annahme geführt, dass aus Evolutionsperspektive die einfacheren Gene (Fliege) älter sind. Einfache Organismen, so die Theorie, haben keine oder wenige Introns, da diese erst im Laufe der Evolution entstehen. Die EMBL-Untersuchung hat nun das Gegenteil aufgedeckt: Frühe Tiere hatten viele Introns, und es sind die schnell evolvierenden Arten wie die Insekten, die die meisten Introns verloren haben. "Menschliche Gene sind typischerweise komplizierter aufgebaut als Fliegengene", erklärt Peer Bork, leitender Forscher des Labors. "Klassische Modellsysteme wie die Fliege haben viel weniger Introns. Daher haben viele Wissenschaftler geglaubt, dass Gene im Verlauf der Evolution immer komplexer geworden sind. Es gab allerdings schon Zweifel an der Allgemeingültigkeit dieses Prinzips, aber bis jetzt fehlte der Beweis. Jetzt haben wir schlüssige Beweise, dass die ersten Tiere bereits komplexe Gene hatten und dass diese Komplexität in vielen wirbellosen Tieren zum Teil wieder verloren gegangen ist." Diese Entdeckung untermauert die sog. "introns-early" oder Exon-Theorie der Gene. Der Theorie zufolge waren die Exons Minigene, die zu einem Zeitpunkt der Entwicklung, zum Beispiel in der vorzellulären Phase, als das fungiert haben, was heute die Gene sind. In einer späteren Evolutionsstufe, so die Theorie, wurden die Minigene zu ganzen Genen zusammengeführt, und die Introns wurden zu den funktionsfreien Stücken, die die Exons zusammenhalten. Alle Gene entstanden so, und wenn Bakterien oder einzellige Eukaryoten keine oder nur wenige Introns aufweisen, dann nur, weil sie sie in späteren Evolutionsstufen verloren haben. Die Introns sind nicht nur vorhanden. Das Team hat auch entdeckt, dass sich ihre Position innerhalb der Gene im Laufe der letzten 500 Millionen Jahre nicht verändert hat. "Dadurch haben wir zwei unabhängige Messungen, die dieselbe Geschichte erzählen", erklärt Dr. Raible. "Die meisten Introns sind sehr alt, und sie sind in langsam evolvierenden Evolutionslinien, wie der der Wirbeltiere oder der Ringelwürmer, bewahrt worden. Damit sind Wirbeltiere eine Art lebendes Fossil." Die Wissenschaftler sind der Ansicht, dass die Entdeckung, dass Platynereis ebenfalls eine sich langsam verändernde Tiergruppe darstellt, auch für die Erforschung der Menschen sehr bedeutend ist. "Durch Studien über die Fliege haben wir bereits unglaublich viel über den Menschen gelernt", ergänzt Dr. Arendt. "Der Meeresringelwurm kann uns vielleicht noch mehr über bestimmte in der Evolution konservierte Prozesse verraten. Außerdem sehen wir, dass es in der Evolution nicht immer nur um den Neuerwerb von Merkmalen geht. Auch der Verlust von komplexen Merkmalen ist ein häufig wiederkehrendes Motiv in der Evolution", so Dr. Arendt abschließend.
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