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Inhalt archiviert am 2023-03-02

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Auswirkungen von Tschernobyl schlimmer als erwartet

Tschernobyl ist mehr als bloß der Name des bisher größten Unglücks in einem Kernkraftwerk weltweit. Tschernobyl ist zu einem Schlagwort für die dunkle Seite des modernen Lebens geworden - dafür, wie die Technologie versagen kann und wie schrecklich die Auswirkungen sein können...

Tschernobyl ist mehr als bloß der Name des bisher größten Unglücks in einem Kernkraftwerk weltweit. Tschernobyl ist zu einem Schlagwort für die dunkle Seite des modernen Lebens geworden - dafür, wie die Technologie versagen kann und wie schrecklich die Auswirkungen sein können. Die Krankheitserreger waren geschmack-, farb- und geruchlos, aber tödlich - durch fehlerhafte Technologie und menschliches Versagen geschaffene unsichtbare Mörder. 20 Jahre nach der Katastrophe hat Greenpeace einen Bericht zu ihren Auswirkungen veröffentlicht, die nach Ansicht der Umweltschutzorganisation umfassender sind als bisher angenommen. Da die Krankheitserreger dauerhaft sind, werden die Auswirkungen von Tschernobyl von einer Generation an die nächste weitergegeben. Die Kontamination von Tschernobyl ist rund 100-mal so stark wie die Kontamination der Bomben von Hiroshima und Nagasaki zusammengenommen. Die Auswirkungen von Hiroshima und Nagasaki sind gut dokumentiert, aber die Auswirkungen von Tschernobyl bleiben im Bereich der Spekulation. "Die genaue Zahl der Opfer wird möglicherweise niemals bekannt sein, aber drei Millionen Kinder müssen behandelt werden", sagte UN-Generalsekretär Kofi Annan. "Frühestens im Jahr 2016 wird die vollständige Zahl derer bekannt sein, bei denen sich wahrscheinlich ernsthafte Krankheiten entwickeln." Natürlich war die Katastrophe nicht auf den zu dieser Zeit evakuierten Bereich beschränkt. Die Wolken mit radioaktivem Material wurden durch das Wetter über den halben Planeten, aber insbesondere Nordeuropa getragen. Cäsium-137 ist das wichtigste radioaktive Agens von Tschernobyl mit einer Halbwertzeit von mehr als 30 Jahren. "Die radiologischen (und somit gesundheitlichen) Folgen dieser Atomkatastrophe werden noch über mehrere Jahrhunderte hinweg zu spüren sein", heißt es in dem Greenpeace-Bericht. Weiter heißt es: "Über die Hälfte des infolge der Explosion ausgestoßenen Cäsium-137 wurde in der Atmosphäre in andere europäische Länder getragen. Mindestens 14 andere Länder in Europa [außer der Ukraine, Weißrussland und Russland] (Österreich, Schweden, Finnland, Norwegen, Slowenien, Polen, Rumänien, Ungarn, Schweiz, Tschechische Republik, Italien, Bulgarien, Republik Moldau und Griechenland) wurden mit Strahlungsniveaus kontaminiert, die über dem Grenzwert von 1 Ci/m2 für 'kontaminierte' Gebiete lagen." Geringere Strahlungsmengen sind in ganz Europa zu finden und dehnen sich bis zum Mittelmeer und bis nach Asien aus. In Bezug auf das Gebiet unmittelbar um den Standort Tschernobyl heißt es in dem Bericht: "In Weißrussland, Russland und der Ukraine allein führte der Zwischenfall zu schätzungsweise 200.000 zusätzlichen Todesfällen zwischen 1990 und 2004." Die Hauptopfer des Zwischenfalls sind: "Liquidatoren" oder Aufräumarbeiter, die allgemein als Aushilfskräfte eingestellt wurden, um mit der Katastrophe fertig zu werden; Evakuierte aus dem unmittelbaren Umkreis von 30 km um den Standort; Bewohner von Gebieten unmittelbar außerhalb der Evakuierungszone und Kinder all dieser Gruppen. In den an den Standort angrenzenden kontaminierten Gebieten stiegen die Krebsraten um 40 Prozent in Weißrussland insgesamt, noch stärker in den Gebieten, die am nächsten zu Tschernobyl gelegen sind, um das 2,7-Fache in den kontaminierten Gebieten Russlands und um fast das Dreifache in den betroffenen Teilen der Ukraine. Die Raten für Schilddrüsenkrebs, für den die Katastrophe von Tschernobyl bekannt ist, steigen immer noch an. In dem Zeitraum von 1988 bis 1998 hatten sich die Raten für Schilddrüsenkrebs verdoppelt, aber bis 1994 hatten sie sich in den kontaminierten russischen Gebieten verdreifacht. Die Auswirkungen sind jedoch nicht auf Schilddrüsenkrebs beschränkt. Andere Schilddrüsenerkrankungen haben zu einer vielfältigen Ansammlung endokriner Krankheiten geführt. Die Raten für Leukämie, andere Krebsarten, Erkrankungen der Atemwege, Verdauungskrankheiten, Blutgefäßkrankheiten und Immunkrankheiten sind alle um das Zwei- bis Vierfache angestiegen. Da die Immunreaktionen beschädigt wurden, sind viele vom so genannten Tschernobyl-AIDS betroffen. Neugeborene haben 2,9-mal mehr Infektionen als ein "normales" Kind. Die Auswirkungen der Kontamination auf die Reproduktions- und Urogenitalsysteme haben die Häufigkeit von niedrigem Geburtsgewicht und Totgeburten in Mittel- und Nordeuropa erhöht. Darüber hinaus haben sich die Raten für das Down Syndrom und Geburtsdefekte wie Anenzephalie, Spina Bifida, Herzmissbildungen, Missbildungen des Zentralnervensystems sowie Wolfsrachen oder Hasenscharte alle seit der Tschernobyl-Katastrophe in Mittel- und Nordeuropa erhöht. "Es ist eine logische Schlussfolgerung, dass der Unfall von Tschernobyl eine beträchtliche Morbidität und Mortalität in ganz Europa, von Skandinavien über Westeuropa bis in den Süden, wo die Türkei die Grenze zwischen Europa und Asien bildet, und auch darüber hinaus verursacht hat und weiterhin verursachen wird", heißt es in dem Bericht. "Es wird unmöglich sein, die Belastung, der die Bevölkerung ausgesetzt war, zurückzuberechnen [...]. Es sollten Studien durchgeführt werden, um soweit als möglich den Umfang der Morbidität und Mortalität im Zusammenhang mit dem Unfall von Tschernobyl zu klären." Die Überreste des Standorts Tschernobyl befinden sich 100 km nördlich von der heutigen ukrainischen Hauptstadt Kiew entlang der Grenze zwischen der Ukraine und Weißrussland. Das Kraftwerk besaß vier wassergekühlte, graphitmoderierte Reaktoren. Dies bedeutet, dass Graphitstäbe verwendet wurden, um die Kernspaltungsreaktion des Uran-235 unter Kontrolle zu halten. In der Nacht vom 25. auf den 26. April 1986 erfolgte ein Test im Kraftwerk. Die Geschäftsführung wollte herausfinden, ob die Turbinen des Kraftwerks im Falle eines Leistungsverlusts in der Lage wären, den Betrieb der Kühlpumpen zu übernehmen. Für die Durchführung des Tests wurde der Reaktor auf ein Viertel seiner Betriebsleistung heruntergefahren und die Sicherheitssysteme wurden absichtlich abgeschaltet. Der Test verlief nicht nach Plan. Die Leistung des Kraftwerks fiel viel zu stark ab - um 99 Prozent. Für ein Funktionieren des Tests musste daher die Leistung langsam erhöht werden. Hierbei kam es zu einem unerwarteten plötzlichen Leistungsanstieg. Die Notabschaltung versagte und der Reaktor explodierte. Genaue Gründe für den plötzlichen Leistungsanstieg und die anschließende Explosion sind nicht bekannt, aber nach heutigen Erkenntnissen lag es an einem entscheidenden Entwurfsfehler - den Graphitstäben, die zur Kontrolle der Reaktion verwendet wurden. Die Graphitstäbe sind zu schwach, um die Kernspaltungsreaktion zu kontrollieren - wenn sie in den Reaktor gesenkt werden, verlangsamt sich die Geschwindigkeit der Reaktion. Wenn die Stäbe herausgenommen werden, erhöht sich die Geschwindigkeit der Reaktion. Die Forscher sind jedoch der Meinung, dass sich die Geschwindigkeit der Reaktion möglicherweise tatsächlich plötzlich erhöhen kann, wenn solche Stäbe schnell in den Reaktor hineingebracht werden. Darüber hinaus ist Graphit, eine Form von Kohle, brennbar. Die 1.000 Tonnen schwere Versiegelungskappe des Reaktors flog weg, der Graphit entzündete sich und verursachte ein riesiges Feuer. Der Inhalt des Reaktors wurde in die Atmosphäre geschleudert. Das Feuer wütete weitere zehn Tage und gab kontinuierlich radioaktives Material in die Atmosphäre ab. Bis 1989 waren mehr als 800.000 Menschen an den Aufräumarbeiten um Tschernobyl beteiligt. 300.000 dieser Menschen waren einer Strahlungsdosis von 0,5 Sievert (Sv) oder mehr ausgesetzt. 0,5 Sv sind die 500fache Dosis der von der EU empfohlenen jährlichen Höchstdosis. Es ist äußerst schwierig, die Todesopfer im Zusammenhang mit der Katastrophe und insbesondere den anschließenden Aufräumarbeiten zu schätzen. Die damalige Sowjetunion stellte keine genauen Zahlen zur Verfügung. Sie veröffentlichte lediglich Informationen zu einer Katastrophe am 28. April, rund drei Tage nach dem Vorfall, und bezeichnete diesen bloß als einen "Unfall". Sobald diese Nachrichten veröffentlicht worden waren, konnten Forscher in Dänemark und Deutschland durch ihre eigene Forschung nachvollziehen, was geschehen war, und folgern, dass sich in Tschernobyl ein "größter anzunehmender Unfall" ereignet hatte. Erst am 23. Mai, vier Wochen nach dem Unfall, wurden Jodtabletten verteilt. Die Tabletten hätten verhindern können, dass das radioaktive Jod in die Schilddrüsen der Menschen in der Region eindringt. Vier Wochen später waren die Auswirkungen der Jodtabletten auf die 130.000 Evakuierten unbedeutend. Unglaublicherweise wurde die Reaktoranlage in Tschernobyl erst im Jahr 2000 abgeschaltet, und obwohl es sich bei dem kontaminierten Gebiet direkt um Tschernobyl um eine Sperrzone handelt, sind einige Menschen tatsächlich in das Gebiet zurückgezogen. Rund 1.500 Menschen sind in einen Umkreis von 15 km um Tschernobyl zurückgezogen, 50 nach Tschernobyl selbst oder ins benachbarte Pripjat, das ursprünglich für die 45.000 Arbeitnehmer des Kraftwerks Tschernobyl und deren Familien gebaut wurde und jetzt einer Geisterstadt ähnelt.

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