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Inhalt archiviert am 2024-04-17

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Messung des Unmöglichen

Messungen untermauern die Wissenschaft, aber wie kann man Subjektives messen? Kann die Wissenschaft technologische Fortschritte nutzen, um die Rätsel und Unwägbarkeiten der menschlichen Wahrnehmung zu enthüllen und die Frage zu klären, wie Menschen mit der Welt interagieren? D...

Messungen untermauern die Wissenschaft, aber wie kann man Subjektives messen? Kann die Wissenschaft technologische Fortschritte nutzen, um die Rätsel und Unwägbarkeiten der menschlichen Wahrnehmung zu enthüllen und die Frage zu klären, wie Menschen mit der Welt interagieren? Die Antwort lautet, dass die Wissenschaft dies versucht. Eine neue Reihe von EU-Forschungsprojekten betrachtet die Schnittstelle zwischen verschiedenen Fachbereichen und die menschliche Erfahrung. Irgendwo zwischen Psychologie, Engineering und Physiologie kommt die Messung des Unmöglichen. Projekte zur Messung des Unmöglichen zielen unter anderem auf Folgendes ab: Quantifizierung von "Natürlichkeit", die psychologischen Reaktionen auf Musik, die objektive Messung von Schall, das Verstehen von emotionaler Körpersprache, das Testen der Zuverlässigkeit des menschlichen Gedächtnisses, die Messung des Vergnügens beim Computerspielen und mehr. Man könnte sagen, dass sie das Subjektive objektivieren. Eine solche Sammlung mag auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, aber die Ergebnisse werden beträchtliche Auswirkungen auf die entstehenden Technologien haben, insbesondere die Art und Weise, wie wir mit der Welt interagieren, und der Innovation in der EU Auftrieb verleihen. Wissenschaftliche Methoden verlangen, dass wir darüber nachdenken, warum etwas geschieht, sie verlangen, dass wir eine Hypothese aufstellen und sie dann testen. Aber was ist, wenn die gewünschten Messungen einfach zu schwierig oder zu subjektiv sind oder zu viele Fachbereiche betreffen? Neue Ansätze zur Beantwortung dieser anscheinend unmöglichen Fragen werden zu unvorstellbaren Verbesserungen unserer Lebenswelt führen. Die Anwendungen sind vielfältig, von wirtschaftlichen Anwendungen über Produkte und Herstellungsverfahren bis hin dazu, wie unsere Umwelt aussieht und sich anfühlt. Kurz gesagt - Qualität. In dem Buch "Zen und die Kunst, ein Motorrad zu warten" meditierte der Autor Robert Pirsig über das Qualitätskonzept. "[...] wir fortschrittlichen Organismen reagieren auf unsere Umwelt mit einer Erfindung vieler großartiger Entsprechungen. Wir erfinden Erde und Himmel, Bäume, Steine und Ozeane, Götter, Musik, Künste, Sprache, Philosophie, Engineering, Zivilisation und Wissenschaft. Wir nennen diese Entsprechungen Realität [...]. Aber was uns zur Erfindung der Entsprechungen veranlasst, ist Qualität. Qualität ist der anhaltende Reiz unserer Umwelt, der uns zur Schaffung der Welt, in der wir leben, animiert", schreibt er. Das Konzept der Qualität überwältigte Pirsig und machte ihn hochgradig, aber glücklicherweise vorübergehend, wahnsinnig. Heutzutage kann das Qualitätskonzept selbst mithilfe von Technologie und atypischen Ansätzen für etablierte Fachbereiche, zusammen mit moderneren Wissenschaften wie der Chaostheorie aufgeschlüsselt und analysiert werden. Würde Pirsigs heute leben und forschen, hätte er vielleicht keinen Grund gehabt, den Verstand zu verlieren. Einige prägten für diesen Ansatz die Bezeichnung "sanfte" oder sensorische Messung, im Gegensatz zu der "harten" Messung, die erforderlich ist, um Satelliten ins All zu schicken, Nanoröhren zu messen oder Impfstoffe gegen das HIV-Virus zu entwickeln. Dr. Carlos Saraiva Martins von der GD Forschung der Europäischen Kommission, der für diese Ansätze Feuer und Flamme ist, zeichnet verantwortlich für die Projektreihe zur Messung des Unmöglichen, bei der es sich um eine NEST-Initiative (NEST - neue und sich abzeichnende wissenschaftliche und technologische Entwicklungen) handelt. "Für alle multidimensionalen Phänomene muss man wissen, wie die Dinge wahrgenommen werden. Zum Beispiel kann man auf einem Flughafen die Zahl der Dezibel und der Flüge messen, aber dies kann von den Anwohnern möglicherweise ganz anders empfunden werden. Wir brauchen methodische Methoden, um die korrekten Antworten zu geben", sagt er. Die Anwendungen für dieses Programm sind vielfältig, und häufig läuft es wieder auf die Qualität hinaus. Dr. Saraiva Martins führte das Beispiel Stoff an. Er besitzt diesbezüglich keine Fachkenntnisse, aber seine Ehefrau ist Meisterin in der - sofortigen - Unterscheidung der Qualität verschiedener Textilien. "Sie [die Qualität] ist immer subjektiv, aber wir können versuchen, den Stoff selbst zu verstehen und zum Entwurf beitragen, um das erwünschte Gefühl zu schaffen. Das ist industrielle Forschung für die Zukunft." Dr. Saraiva Martins wies auf einige neuartige Vorschläge hin, die bei der Kommission im Rahmen ihres Aufrufs zur Einreichung von Vorschlägen für das Sechste Rahmenprogramm (RP6) eingegangen sind. "Diese Art von methodischem Phänomen trat zunehmend in Erscheinung, wobei immaterielle Werte wie die Intelligenz von Mitarbeitern gemessen wurden", sagt er. "Wir hatten eine Grenze, und diese Projekte erfüllten nicht die Voraussetzungen der Aufforderung. Sie wurden alle abgelehnt." Dr. Saraiva Martins war der Auffassung, dass diese abgelehnten Vorschläge wertvoller waren, als das System es erlaubte. Er war der Meinung, dass einige dieser Vorschläge etwas Besonderem auf der Spur waren - etwas anderem und sehr Interessantem. "Nach externen Beratungen mit Wissenschaftlern und drei Brainstorming-Workshops stand fest, dass NEST aktiv auf diese Ansätze reagieren konnte, und wir integrierten die 'Messung des Unmöglichen' in die NEST-PATHFINDER-Initiative der Europäischen Kommission", so Dr. Martins. Sein Aufruf war erfolgreich und die Aufforderung wurde aufgenommen, wobei die Aufgabenstellung wie folgt lautete: "Diese Initiative zielt auf die Unterstützung interdisziplinärer Forschung und neuartiger Untersuchungsmethoden ab, die ein Potenzial für Fortschritte bei der Messung multidimensionaler Phänomene aufweisen könnten, die durch menschliche Interpretation und/oder Wahrnehmung vermittelt werden." Das war der Durchbruch. "Nach der Einleitung des Aufrufs konnten die Gutachter nicht mehr sagen 'das ist Unsinn', und bewerteten stattdessen die Besten der Besten", sagt er. Die Anwendungen können auf den ersten Blick sonderbar erscheinen, nicht jedoch für Andy Henson vom britischen National Physical Laboratory, das neben der Messung von Nanoröhren und Quanteneffekten regelmäßig atypische Phänomene untersuchen musste, wie beispielsweise "den Glanz von Katzenfell. Häufiger kommt es vor, dass ein Stadtzentrum uns fragt, wie es eine Stadt am besten beleuchten kann, oder uns bittet, Tarnung für Militäruniformen zu entwickeln, die im sichtbaren und Infrarotspektrum funktionieren", erklärt Dr. Henson. Das National Physical Laboratory leitet das Projekt MONAT (Messung von Natürlichkeit). Es hat das Konzept ins Leben gerufen und wird die offene Website für das neue Netzwerk zur "Messung des Unmöglichen", MINET, betreiben, das von der Universität Stockholm koordiniert wird. "Die Herausforderung besteht in der Überschneidung von Pfaden und Fachbereichen", so Dr. Henson. "Metrologen tauschen sich üblicherweise nicht mit Psychologen oder Physiologen aus. Wir verstehen in der Tat noch nicht einmal die Sprache des anderen. Diese Projekte werden zu einer Synergie untereinander führen, um einen rigoroseren metrologischen Ansatz tiefer in Bereiche zu bringen, in denen Panel Tests häufig das Beste sind, was wir derzeit tun können." Diese Art von Projekten stellt sicherlich eine große Herausforderung dar, doch der Nutzen könnte beträchtlich sein. "Ein traditionelles Projekt könnte sich mit der Verbesserung eines kleinen Teils befassen, beispielsweise einer Komponente für die Tragfläche eines Flugzeugs, wodurch sich der Gesamtvorteil auf einen Bruchteil von einem Prozent beläuft. Aber die empfundene Qualität ist anders. Wenn meine Ehefrau sofort den qualitativ besten Stoff in einem Geschäft finden kann, dann könnte dieser Mehrwert möglicherweise einbezogen werden", sagt Dr. Henson und greift damit die Worte von Dr. Saraiva Martins auf. Weiter meint er: "Ein Produkt ist eine binäre Sache, es hat einen empfundenen Wert und verkauft sich. Oder es bleibt ein Ladenhüter und der Kunde entscheidet sich für das Angebot eines Konkurrenten - es ist alles oder nichts. Außerdem bezahlen die Leute einen beträchtlichen Preis für Qualität, aber nur, wenn sie erkennen, dass sie vorhanden ist." Wir lernen gerade erst, wie Qualität in ein Produkt einbezogen werden kann, als ein integraler Bestandteil des Entwurfs. Komplexitätswissenschaft veranlasst Menschen zu Weitsicht. Aber leider reichte die Rechenkapazität bis vor Kurzem einfach nicht aus, um höchst komplexe Informationen zu etwas Sinnvollem zu verarbeiten. Jetzt ist dies sowohl möglich als auch bezahlbar, und die frühen Träumer haben eine Arbeitsgrundlage. Echte Erfahrungen können als Beispiele angeführt werden. "Bei der Messung von Komfort stellten die Designer von Schnellzügen fest, dass die Fahrgäste die Bewegung des Zugs vermissten - sie war zu gleichmäßig, und irgendwie hat die Perfektion die Erfahrung verdorben", so Dr. Saraiva Martins. "Warum soll man also nicht die Kurven betonen, das Gefühl von Geschwindigkeit verstärken und somit die Erfahrung aufwerten?" Das nennen Marketingfachleute "Mehrwert". Die Messung des Unmöglichen zielt darauf ab, den leeren Raum zwischen Objektivismus und Empirizismus zu füllen. Wenn Unternehmen heute neue Produkte testen, verwenden sie Panel Tests, um zu ermitteln, wie ein Produkt ankommt. "Panel Tests haben einen inhärenten Nachteil - sie beziehen sich auf die Gegenwart und nicht auf die Zukunft. Sie messen eine aktuelle Durchschnittsmeinung. Großartige und innovative Produkte sind eine Herausforderung und bringen das Spiel voran", so Dr. Henson. Da das heutige Europa aufgewacht ist und festgestellt hat, dass es mit den niedrigeren Kosten aufstrebender Volkswirtschaften und der größeren Wettbewerbsfähigkeit reifer Volkswirtschaften nicht mithalten kann, könnte dieser neue Ansatz Europa dabei unterstützen, an seiner Wettbewerbsposition festzuhalten. Projekte wie die Messung des Unmöglichen zielen darauf ab, den Wettbewerb durch Innovation zu überspringen. Dr. Henson erklärt: "Wenn man großartige Dinge sieht, dann haben sie das gewisse Etwas, was wir als empfundene Qualität bezeichnen würden und was wir im Laufe der Zeit möglicherweise sogar mit einer gesamten Marke assoziieren. Daher kann 'dieses Etwas' einen enormen Vorteil in Bezug auf den Wert darstellen, der nicht nur in der Größenordnung von weniger als einem Prozent liegt. Der Erfolg von [Apple] iPods ist ein Paradebeispiel hierfür. Als Wirtschaft müssen wir häufiger und im ersten Versuch ins Schwarze treffen. Hierzu müssen wir besser verstehen - d. h. messen -, was heute noch als nicht messbar gilt." Ein solcher Ansatz passt genau zu dem Begriff der "führenden Märkte", der im Entwurf für europäische Innovation, dem Aho-Bericht, enthalten ist, der unter der Leitung des ehemaligen finnischen Ministerpräsidenten Esko Aho verfasst wurde. Aber selbst in Finnland gibt es noch keine nationale Unterstützung für diese neuartigen Wege der Forschung. Die Neurowissenschaftlerin Dr. Minna Huotilainen vom Fachbereich Psychologie der Universität Helsinki reichte mit dem Projekt BrainTuning ein erfolgreiches Angebot für einen der Aufrufe zur Messung des Unmöglichen ein. Dieses Projekt untersucht Psychologie und Musik und insbesondere die Bewertung von Musik unter Verwendung von Hirnforschungsinstrumenten. Es verbindet Psychologie, Musikwissenschaft und Hirnforschung, wobei die Themen kombiniert werden und außerdem die Hirnentwicklung und emotionale Reaktionen auf Musik untersucht werden. "In unserem Fall ist dies [der Aufruf zur Messung des Unmöglichen] die einzige Möglichkeit hierfür. Wir hätten keine nationalen Finanzierungsmittel erhalten [...]. Dies ist sehr wichtig für uns und bringt den Bereich voran", sagt sie. "In meinem Bereich, der Neurowissenschaft, können Sie zur Untersuchung von Entwicklung nationale Finanzierungsmittel für die Forschung erhalten. Sie können Sprachentwicklung untersuchen und vielleicht auch ein wenig die Musik betrachten, werden dabei aber immer innerhalb der konventionellen Parameter verharren", sagt sie. Dr. Huotilainen wollte sich jedoch mit interdisziplinärer Forschung befassen. "Meines Erachtens liegen die wahren Fortschritte in der Wissenschaft darin, Menschen zu finden, die an zwei verschiedenen Bereichen interessiert sind - dadurch können Riesenfortschritte erzielt werden." Sie ist außerdem der Ansicht, dass interdisziplinäre Studien wesentlich sind, um einen doppelten Aufwand wertvoller Forschungszeit zu verhindern und Studien aus einem Bereich auf einen anderen anzuwenden. "Möglicherweise wurden Antworten in einem Bereich gefunden, aber Forscher in anderen Bereichen wissen nichts davon, weil Forscher nicht miteinander reden. Auf diese Weise können die Informationen - auch in anderen Bereichen - genutzt werden." Laut Andy Henson wird sich die Idee schnell auf Verbraucherprodukte auswirken. "Für die Herstellung von Spitzenprodukten muss um empfundene Qualität konkurriert werden [...]. Es gibt auch Anwendungen in der Forensik und bei der Identifikation von Fälschungen", so Dr. Henson. Anfangs "kam so etwas für eine Finanzierung durch das Rahmenprogramm nicht in Frage", so Dr. Henson weiter. "Um ehrgeizig zu sein, muss man Risiken eingehen. Dies ist einer der Bereiche, in denen die Projekte mit dem übereinstimmen, worüber immer geredet wird, mit den Herausforderungen, denen wir uns stellen, und den Neuerungen, die wir einführen müssen. Von der Wissenschaft zur Innovation - die Entwicklungen werden sich an die Innovationsagenda anpassen." Dieser Forschungszweig steckt noch in den Kinderschuhen. Dr. Huotilainen zufolge befindet sich das Projekt BrainTuning derzeit in der Datensammlungsphase. Dr. Saraiva Martins sieht die Messung des Unmöglichen als eine Möglichkeit zur Überwindung der klassischen Kluft zwischen Objektivismus und Empirizismus: "Es gibt viele Dinge, die wir tun sollten - wir sind dafür verantwortlich, die beiden Welten wieder zusammenzuführen." Mit Überraschungen ist zu rechnen. Ausgewählte Projekte: - MindBridge - Messung von Bewusstsein. Zielt auf die Überwindung der großen Kluft zwischen Psychologie und Neurowissenschaft ab, zwischen subjektiver Erfahrung und objektiver Beobachtung. - MONAT - Messung von "Natürlichkeit". -PERCEPT - Perzeptuelles Bewusstsein - von technischer zu künstlerischer Einschätzung, Verbindung von Verhaltensreaktionen mit neuralen Pfaden. - SynTex - Messung von Gefühlen und Erwartungen im Zusammenhang mit Textur.

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