CORDIS - Forschungsergebnisse der EU
CORDIS

Article Category

Nachrichten
Inhalt archiviert am 2023-03-07

Article available in the following languages:

Mathematisches Gesetz für eine große, vereinheitlichte Gehirntheorie

Am 16. März 2010 organisierte der STOA-Wissenschaftsausschuss (Science and Technology Options Assessment - Stelle für die Beurteilung von wissenschaftlichen und technologischen Optionen) des Europäischen Parlaments eine Konferenz zur "Brain Awareness Week". Auf der Konferenz s...

Am 16. März 2010 organisierte der STOA-Wissenschaftsausschuss (Science and Technology Options Assessment - Stelle für die Beurteilung von wissenschaftlichen und technologischen Optionen) des Europäischen Parlaments eine Konferenz zur "Brain Awareness Week". Auf der Konferenz stellte Professor Karl Friston vom Wellcome Trust Centre for Neuroimaging seine neuesten Forschungsergebnisse vor, die die Hirnforschung in völlig neue Bahnen lenken könnten. Professor Friston entwickelte ein mathematisches Gesetz, das sich einer großen, vereinheitlichten Theorie (Grand Unified Theory, GUT) der Gehirnfunktion annähert. Eine auf einer einfachen Gesetzmäßigkeit basierende vereinheitlichte Theorie könnte das Rätsel um die Entstehung neurogenetischer Störungen und Erkrankungen lösen und erklären, auf welche Weise Menschen Entscheidungen treffen und lernen. Sage und schreibe 35 Prozent aller menschlichen Leiden haben ihren Ursprung im Gehirn. In Europa könnten diese Erkenntnisse die Hirnforschung von Grund auf revolutionieren. Allein im vergangenen Jahr schlug die Behandlung degenerativer Hirnerkrankungen und Störungen für die EU mit mehr als 400 Millionen EUR zu Buche, so Paul Rübig, Vorsitzender des STOA-Wissenschaftsausschusses. Ein besseres Verständnis der Vorgänge im Gehirn könnte die Entwicklung von Therapien vorantreiben, was nicht nur den Betroffenen selbst zugute kommt, sondern auch zielgerichtete EU-Fördermaßnahmen für die Hirnforschung erleichtert. Jahrzehnte lang entwickelten Forscher und Wissenschaftler geografische Karten des Gehirns mittels invasiver Dissektions-, Bildgebungs- und Visualisierungsverfahren wie Magnetresonanztomografie, Röntgenuntersuchungen und CAT-Scan-Computertomografie. Obwohl die physischen Gegebenheiten im menschlichen Gehirn mehr oder weniger entschlüsselt sind, blieben dessen Funktionsweise und die Mechanismen neuronaler Interaktionen noch weitestgehend im Dunkeln. Bis Professor Friston seine Theorie entwickelte. "Wir verfügen nun über ein grundlegendes Modell des Gehirns. Damit hat sich für uns ein Traum erfüllt, denn mit dieser Theorie als Arbeitsgrundlage können wir untersuchen, was genau im Gehirn eigentlich passiert", sagte Dr. Thierry Metens vom Radiologischen Institut des Erasmus-Krankenhauses der Freien Universität Brüssel, der ebenfalls an der Konferenz teilnahm. "Es war ein regelrechtes Aha-Erlebnis", erzählt Professor Friston über den Moment, als er das Potenzial seiner Theorie erkannte. "Der springende Punkt bei allem, von der Handlung bis zur Wahrnehmung, ist die Minimierung freier Energie. Unsere Aufgabe ist die Erforschung von Verknüpfungen und Integration in den einzelnen Gehirnarealen." Die Arbeit Professor Fristons baut auf der Bayesschen Gehirntheorie auf, derzufolge das Gehirn nach einem Wahrscheinlichkeitsprinzip funktioniert und unablässig Vorhersagen zu Ereignissen trifft, die es dann durch Sinneseindrücke von außen ständig aktualisiert. Nach Professor Fristons Theorie sind Handlungen und Wahrnehmungen entsprechend dem Prinzip der freien Energie darauf ausgelegt, neuronale und neuromuskuläre Aktivitäten zu optimieren, um Vorhersagefehler für freie Energie auszuschließen, wobei generative Modelle sensorischer Wahrnehmungen zugrunde liegen. Im Grunde ist freie Energie ein Mechanismus zur Vermeidung von Vorhersagefehlern. Sie steht dem System dann zur Verfügung, wenn die nicht genutzte Energie aus dem System entfernt wurde. Ein Vogelschwarm aus Tausenden von Staren beispielsweise funktioniert nach dem Prinzip der Selbstorganisation (das Auftreten spontaner, neuer, stabiler Strukturen), um unerwartete Ereignisse weitestgehend zu minimieren. Obwohl die Vögel solche Ereignisse nicht selbst überblicken können, werden sie durch die freie Energie gelenkt, die Fristons Theorie zufolge immer höher ist als das unerwartete Moment. Die Vögel minimieren daher die freie Energie, sodass kleine Fehler nur kleine Überraschungen bewirken. Neben Handlung und Wahrnehmung hat die Minimierung von freier Energie auch Auswirkungen auf das Lernen, die neuronale Entwicklung und die Evolution. "Unser Leben basiert auf dem Prinzip der Homöostase [Selbstregulation], wir sind bestrebt, unvorhersehbare Ereignisse nach Möglichkeit von uns fernzuhalten", fügt Professor Friston hinzu. Parallel zur Konferenz fand ein Workshop zum Thema Gehirnstrommessung statt. Die Referenten äußerten sich zu den neuesten Fortschritten in der funktionellen Hirntomografie, zur EU-Richtlinie 2004/40/EG und ihrer Bedeutung für die Magnetresonanztomografie. Der STOA-Wissenschaftsausschuss erstellt unabhängige Expertengutachten für die einzelnen EU-Parlamentsausschüsse zu den Auswirkungen wissenschaftlicher und technologischer Neuerungen in den verschiedenen Politikbereichen, zudem war er neben der European Dana Alliance und dem Belgian Brain Council Mitorganisator der "Brain Awareness Week".