Hat COVID-19 unsere psychische Gesundheit doch nicht beeinträchtigt?
Während der COVID-19-Pandemie berichteten Wissenschaft und Medien, dass sich unsere psychische Gesundheit verschlechtert hätte. Doch könnte das täuschen? Eine umfassende Studie zur psychischen Gesundheit im Rahmen von COVID-19 hält überraschende Erkenntnisse bereit. Laut der Studie, die von der McGill University in Kanada geleitet und in der Fachzeitschrift „BMJ“ veröffentlicht wurde, hatte die weltweite Pandemie nur bedingt Einfluss auf die psychische Gesundheit.
Überraschende Belastbarkeit
Forschende an mehreren kanadischen Universitäten werteten 137 Studien aus, die zwischen 2018 und 2019 an verschiedenen Gruppen in reicheren Ländern weltweit durchgeführt wurden. Der untersuchte Zeitraum lag damit vor dem Zeitpunkt, zu dem China die Weltgesundheitsorganisation über den ersten Coronavirus-Ausbruch in seinem Land informierte. Anschließend verglichen die Forschenden diese Ergebnisse mit Studien, die mit denselben Gruppen im Jahr 2020 oder danach durchgeführt wurden. Die Teilnehmenden bestanden zu 75 Prozent aus Erwachsenen und im Übrigen aus Jugendlichen im Alter von 10 bis 19 Jahren. Die festgestellten Veränderungen bei psychischen Symptomen, wie Depressionen und Angststörungen, waren minimal. Es ist weitere Forschung nötig, um die Auswirkungen von COVID-19 auf die psychische Gesundheit in Ländern mit niedrigerem Einkommen zu ermitteln. „Der Aspekt der psychischen Gesundheit bei COVID-19 ist sehr viel differenzierter als bisher allgemein angenommen“, merkt der leitende Studienautor Brett Thombs, kanadischer Forschungslehrstuhl und Professor für Psychiatrie an der McGill University in einer Pressemitteilung an. „Die Behauptungen, dass sich die psychische Gesundheit während der Pandemie bei den meisten Menschen signifikant verschlechterte, stützten sich hauptsächlich auf einzelne Studien, die eigentlich Momentaufnahmen einer bestimmten Situation an einem bestimmten Ort zu einer bestimmten Zeit sind. Sie beinhalten in der Regel keinen langfristigen Vergleich damit, was davor oder danach kam.“ „Diese Studie war die bei weitem umfassendste, die zur psychischen Gesundheit bei COVID-19 weltweit durchgeführt wurde, und sie zeigt, dass die Menschen wesentlich belastbarer sind, als viele dachten“, erklärt Erstautorin Ying Sun, die als Forschungsreferentin am Lady Davis Institute des Jewish General Hospital tätig ist.
Mehrbelastung von Frauen
Die Forschung ergab jedoch, dass sich die psychische Gesundheit bei Frauen tatsächlich – wenn auch nur geringfügig – verschlechtert hatte. Das lag an der erhöhten Belastung, der sie ausgesetzt waren. Auch älteren Personen, Studierenden und Menschen, die einer sexuellen oder geschlechtlichen Minderheit angehören, ging es etwas schlechter. „Das ist besorgniserregend und deutet darauf hin, dass manche Frauen, und auch manche Menschen aus anderen Gruppen, eine Verschlechterung ihrer psychischen Gesundheit durchmachten und fortlaufenden Zugang zu psychologischer Unterstützung benötigen werden“, so Danielle Rice, Assistenzprofessorin an der McMaster University und Psychologin am St.Joseph's Healthcare Hamilton, die ebenfalls an der Studie mitwirkte. „Die kanadische Bundesregierung und die kanadischen Provinzregierungen arbeiteten gemeinsam mit anderen Staaten weltweit darauf hin, während der Pandemie den Zugang zu Diensten für die psychische Gesundheit zu erleichtern, und sie sollten nun sicherstellen, dass diese Dienste auch weiter zugänglich bleiben.“ „Unsere Ergebnisse verdeutlichen, wie wichtig es ist, strenge Wissenschaft zu betreiben. Denn anderenfalls können sich unsere Erwartungen und Vermutungen – im Zusammenspiel mit minderwertigen Studien und Anekdoten – zu sich selbst erfüllenden Prophezeiungen entwickeln“, ergänzt Prof. Thombs. Die Forschenden schrieben in ihrer Studie zusammenfassend: „Die Pandemie und ihre langfristigen Folgen sind in den Gesellschaften weltweit weiterhin spürbar, daher wird es von Bedeutung sein, die psychische Gesundheit weiterhin zu bewerten. Die Pandemie hat sich auf das Leben vieler Menschen ausgewirkt und manche von ihnen erleben nun zum ersten Mal überhaupt psychische Probleme. Die Regierungen sollten weiterhin sicherstellen, dass psychologische Unterstützung angeboten wird und auf die Bedürfnisse der Bevölkerungen eingeht.“ Die Studie wird aktualisiert, sobald weitere Forschungsergebnisse vorliegen. Hier können Sie den Stand der Dinge verfolgen.
Schlüsselbegriffe
COVID-19, psychische Gesundheit, Pandemie, Coronavirus, Belastbarkeit