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Inhalt archiviert am 2024-04-22

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Feature Stories - Fahrerassistenzsysteme können Leben retten

Die Fahrzeuge, mit denen europäische Bürger in ihren Sommerurlaub aufbrechen, werden jedes Jahr sicherer, und trotzdem gehören Verkehrsunfälle zum Alltag, häufig mit tragischen Folgen. Europäische Forscher und Ingenieure arbeiten an der Entwicklung hochmoderner automatisierter Fahrzeuge mit besserer Fahrsicherheit und Treibstoffeffizienz für mehr Komfort und stressfreies Fahren.

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Mehr als 35.000 Menschen sterben jährlich in 1,5 Mio. Verkehrsunfällen auf Europas Straßen. Auf jeden Toten kommen 4 Menschen mit lebenslanger Schwerbehinderung, 10 Schwer- und 40 Leichtverletzte. Obwohl die Zahl der Verkehrstoten dank besserer Sicherheitsvorkehrungen wie Gurtpflicht, Airbag und ausreichender Knautschzone rückläufig ist, konzentrieren sich bisherige Maßnahmen noch immer eher darauf, die Auswirkungen eines Verkehrsunfalls abzumildern als ihn von vornherein zu verhindern. Neue Fahrzeugtechnologien, die durch Computer, Sensorsysteme und Aktuatoren unterstützt werden, sollen dem Fahrer Hilfestellung leisten oder gar selbst die Steuerung des Fahrzeugs übernehmen, um zu vermeiden, dass es überhaupt zum Unfall kommt. Manche Fahrzeuge verfügen bereits über sogenannte Fahrerassistenzsysteme (Advanced driver assistance systems, ADAS), die von Nachtsicht- und Kollisionswarnsystemen reichen, die den Fahrer vor Hindernissen auf der Straße warnen. Forscher und Ingenieure haben nun gemeinsam eine skalierbare Architektur entworfen, um die kritischsten Aspekte beim Fahren durch Fahrerassistenzsysteme zu verbessern und einen möglichst hohen Automatisierungsgrad zu erreichen. Bei der Entwicklung wird vor allem darauf geachtet, die Vorteile der Automatisierung wie verbesserte Sicherheit, Komfort und Treibstoffeffizienz zu gewährleisten, während der Fahrer jederzeit persönlich eingreifen kann. Einige dieser Neuerungen könnten bereits in fünf Jahren in Serie gehen. "Viele Autofahrer sind äußerst skeptisch, wenn es um automatisiertes Fahren geht, denn sie fürchten, die Kontrolle über ihr Fahrzeug zu verlieren. Das von uns entwickelte System lässt ihnen volle Entscheidungsfreiheit", wie Reiner Hoege, ingenieurtechnischer Leiter von Automotive Systems and Technology, Continental Automotive in Deutschland erklärt. Dr. Hoeger war Koordinator des EU-finanzierten Projekts HAVEit (Highly automated vehicles for intelligent transport), an dem ein Team aus Forschern und Ingenieuren aus 17 Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen beteiligt war, darunter Volvo Technology, Volkswagen und Continental, die bereits mehrere wichtige Meilensteine bei der Entwicklung automatisierter und damit sicherer Fahrzeuge gesetzt hatten. Mit dem Ansatz sollte ein hoher Automatisierungsgrad bei Stressbelastung mit hoher Unfallwahrscheinlichkeit erreicht werden, wie zum Beispiel bei Straßenarbeiten oder stockendem Verkehr. Unter Einsatz bereits existierender Sensor- und Aktuatortechnologien in Kombination mit Bordcomputern und neuen Algorithmen kann sich der Fahrer zwischen drei Automatisierungsstufen entscheiden, die der Computer in Abhängigkeit von den jeweiligen Fahrbedingungen vorschlägt. In der ersten Stufe fährt der Fahrer selbst, wird aber im Gefahrenfall durch das ADAS unterstützt. Im teil- bzw. semiautomatisierten Modus fährt das Fahrzeug längsautomatisiert, sodass der Fahrer nicht mehr selbst Gas geben oder bremsen muss. – eine erweiterte Form der adaptiven Fahrsteuerung. In der hochautomatisierten Stufe kommt noch die Querautomatisierung hinzu – der Fahrer muss also nicht mehr selbst lenken. Der Fahrer hat Gefahrensituationen unter Kontrolle "Jeder Modus muss manuell ausgewählt werden. Der Fahrer trägt jedoch unabhängig vom gewählten Fahrmodus stets die volle Verantwortung und kann das System jederzeit überstimmen", wie Dr. Hoeger vermerkt. Im Gegensatz zu früheren Lösungen schaltet das HAVEit-System jedoch nicht einfach eine ADAS-Komponente aus, wenn die Situation kritisch wird oder werden kann, sondern geht progressiv und stufenweise vor, um die Kontrolle vom automatisierten System wieder an den Fahrer zu übergeben. "Zweimal pro Sekunde modelliert unser System die Umgebung, wertet aus, was draußen passiert und berechnet die kommenden zwei Sekunden im Voraus. Dann entscheidet es, ob die Automatisierung mit der Situation umgehen kann oder nicht. Ist das System überfordert, beispielsweise wenn die Sicht zu kurz ist, wird dem Fahrer signalisiert, wieder die Kontrolle zu übernehmen", so der Projektkoordinator. Eine Kamera im Innenraum überwacht kontinuierlich den Fahrer, und der Bordcomputer berechnet das vorhandene Maß an Aufmerksamkeit. Im teil- und hochautomatisierten Modus wird auch die Interaktion mit dem Fahrzeug berücksichtigt, etwa ob der Fahrer Lenkkorrekturen durchführt. Merkt das System, dass der Fahrer müde, unaufmerksam oder abgelenkt ist, wird dieser durch Leucht- bzw. akustische Warnsignale oder auch Vibrationen aufgefordert, die Fahraufgabe wieder selbst zu übernehmen. Bleibt die Reaktion aus, schaltet das Fahrzeug auf den hochautomatisierten "Sicherheitsmodus", d.h. der Wagen bremst langsam ab und fährt an den Straßenrand, bis er steht. Diese optimale Arbeitsteilung zwischen Fahrer und Computer stellt dem Fahrer quasi einen virtuellen Kopiloten zur Seite, der assistierend eingreift und in kritischen oder monotonen Fahrsituationen die Kontrolle übernimmt. Da schätzungsweise 97% aller Unfälle auf menschliches Versagen zurückzuführen sind, kann ein zweites, virtuelles Augen- und Händepaar an der Seite des Fahrers die Fahrsicherheit wesentlich erhöhen. In einer Anwendung anlässlich der Projektabschlussveranstaltung in Schweden im Juni demonstrierten die Projektpartner das System auf einer Straße, auf der Bauarbeiten durchgeführt wurden. Das Fahrzeug musste Leitkegel, Betonblöcke, komplexe Beschilderung und enge Abstände zwischen Hindernissen oder zu anderen Fahrzeugen meistern, die die Konzentration beim Fahren beeinträchtigen und Stressbelastungen darstellen. In einer anderen Anwendung zeigte das Team, wie der Fahrer bei monotonem Fahren, beispielsweise bei Stauaufkommen oder auf langen Autobahnstrecken entlastet werden kann. Bei stockendem Verkehr etwa übernimmt das System zum Großteil die Steuerung, um das Fahrzeug in der Spur zu und Abstand zum Vordermann zu halten. Ein Radargerät und eine Kamera messen den Abstand zum vorausfahrenden Fahrzeug, sodass der Wagen automatisch beschleunigt und abbremst und sich so optimal an den Verkehrsfluss anpasst. Auf diese Weise wird dem Fahrer die Monotonie des Fahrens erspart. Eine ähnliche Automatisierungsfunktion unterstützt den Fahrer auf Langstrecken wie etwa Autobahnen, wenn wenig Verkehr herrscht. "Anwendungen wie der automatisierte Stauassistent könnten schon bald in Serienfertigung gehen. Alle demonstrierten Technologien bieten dem Fahrer echte Vorteile und können der automatisierten Fahrtechnologie zum Durchbruch verhelfen", ist Dr. Hoeger überzeugt. Die Menschen von diesen Vorteilen zu überzeugen, ist jedoch eine der bislang größten Hürden, und genau dies hat sich HAVEit zum Ziel gesetzt. Wenn Fahrer, die ungern die Kontrolle über ihr Fahrzeug einem Computer überlassen würden, davon überzeugt werden könnten, dass ein gewisser Grad an Automatisierung nicht nur die Sicherheit verbessert sondern auch komfortabler ist und den Fahrer in Stresssituationen entlastet, wird sich die Technologie durchaus durchsetzen. Die Forschungen des Projekts HAVEit wurden unter dem Siebten Rahmenprogramm (RP7) finanziert und belegen, dass das neue System auch kosteneffizienter ist. Die vom Projektpartner Volvo Technology entwickelte Anwendung "Active Green Driving" wurde an einem Hybridbus demonstriert, der mit Sensoren, digitalen Karten und GPS ausgestattet ist. Sie zeigt, dass sich durch Coaching des Fahrers in kritischen Situationen und eine automatische, vorausschauende Vorbereitung auf veränderte Straßenverhältnisse der Treibstoffverbrauch um bis zu 8% senken lässt. "Während wir die Technologie entwickelten und die Anwendungen in Simulatoren testeten, haben wir uns kontinuierlich mit den Fahrern beraten – mit zum Großteil überwältigend positiven Reaktionen", wie Dr. Hoeger weiter ausführt. "Auch die damalige Debatte um die Vor- und Nachteile von Schaltgetriebe und Automatikschaltung wurde heftig geführt – und inzwischen fahren viele Menschen Automatikfahrzeuge und sind voll und ganz zufrieden. Ich bin überzeugt, dass bei der Einführung automatisierter Fahrzeuge Ähnliches passieren wird: die Akzeptanz wird nach und nach wachsen, je mehr Menschen mit der neuen Technologie fahren und deren Vorteile am eigenen Leibe erfahren." Nützliche Links: - Projekt "Highly automated vehicles for intelligent transport" - HAVEit-Projektdatensatz auf CORDIS Weiterführende Artikel: - Könnte eine EU-finanzierte Studie den Aufgang einer neuen Ära im Verkehr einläuten? - Spanische Ingenieure entwickeln neue Formel für die Berechnung der Senkung der Verkehrstoten - Wo guckst Du hin? - Wie man Verkehrssünder besser kontrollieren kann