Einblicke in natürliches Fahrverhalten aus allererster Hand
„Naturalistic Driving“ ist ein relativ neues Konzept zur Überwachung des Fahrerverhaltens, bei dem die Informationen über die alltäglichen Fahrten von Freiwilligen erfasst und auf unaufdringliche Art und Weise gesammelt werden, ohne experimentelle Kontrolle auszuüben. Das UDRIVE-Projekt erfasst Daten dieser Art, um Europas Straßen in zunehmenden Maße noch sicherer und nachhaltiger zu machen. Obgleich seit 2010 die Zahl der Verkehrstoten in Europa bereits um 22 % zurückgegangen war, sind die schlechten Zahlen von 2014 ein klares Zeichen, dass weiterhin dringend innovative Lösungen zur Erhöhung der Sicherheit auf unseren Straßen benötigt werden. Bislang wurden Maßnahmen auf Basis von Simulationen, Umfragen, Analysen maßgeblicher Statistiken, Präventionskampagnen, Blitzern oder verstärkten Polizeikontrollen getroffen. Aber wissen wir tatsächlich, was im Einzelnen hinter dem Steuer geschieht, und wie man Gefahrvolles am besten verhindern kann? Für das Team von UDRIVE (eUropean naturalistic Driving and Riding for Infrastructure & Vehicle safety and Environment) lautet die Antwort hier eindeutig „Nein“. Momentaneindrücke zum Verhalten des Fahrers werden oft durch die Beschaffenheit der gesammelten Daten verfälscht, so dass das natürliche Fahrverhalten der europäischen Bürgerinnen und Bürger nicht exakt widergespiegelt wird. Seit 2012 führt das 19 Mitglieder starke Konsortium, das Universitäten, Verkehrsforschungsinstitute, die FIA und den Fahrzeughersteller Volvo umfasst, den allerersten Großversuch zum „Naturalistic Driving“ durch, der jemals in Europa stattgefunden hat. Freiwillige Auto-, LKW- und Motorradfahrer aus sieben Ländern haben sich dazu bereiterklärt, ihre Fahrzeuge mit Kameras und geräten zur Datenübertragung ausstatten zu lassen. Diese technische Ausstattung wird es letztlich den Forschern ermöglichen, die Gefahren sicherheitskritischer Verhaltensweisen zu quantifizieren, das Nutzerverhalten in Hinsicht auf Emissionswerte, Kraftstoffverbrauch und Umweltfaktoren zu überwachen, und neue Maßnahmen zu ermitteln, um das europäische Verkehrssystem sicherer und nachhaltiger auszugestalten. Dr. Nicole van Nes, Projektleiterin für sichere Automation von Straßen und Fahrzeugen am niederländischen Institut für Sicherheit im Straßenverkehr SWOV und Koordinatorin von UDRIVE, erläutert die Projektziele, den Nutzen und das bisher Erreichte. Das Projekt zielt darauf ab, die Zahl der Verkehrsunfälle in Europa zu verringern. Wie soll das funktionieren? Das UDRIVE-Projekt soll Einblick in das alltägliche Fahrverhalten auf europäischen Straßen gewinnen, und das im realen Kontext. Von den Autos, Lastwagen und Motorrädern werden kontinuierlich CAN-Daten, kinematische Daten, Bildmaterial von 5 bis 8 Kameraansichten sowie Informationen von einer intelligenten Kamera abgerufen und gesammelt, die uns einen guten Überblick daüber verschaffen, was im Inneren dieser Fahrzeuge und draußen um sie herum vorgeht. Rein aus Gründen der Statistik ist es wahrscheinlich, dass etliche Unfälle und Beinahe-Crash-Situationen aufgezeichnet werden, und diese Daten werden uns konkrete Informationen über die Unfallursachen liefern. Auf welche Datentypen konzentrieren Sie sich und wie werden sie verwendet? Anhand unserer Aufzeichnungen können wir Risikofaktoren ermitteln und die Folgen von bestimmten Verhaltensweisen, etwa dem Verfassen von Textnachrichten, analysieren. Weitere Hauptschwerpunkte sind Ablenkung und Unaufmerksamkeit, Interaktionen mit Fußgängern und Radfahrern sowie das Verhalten von Motorradfahrern. Mit diesen Daten sind wir wirklich so nah wie es nur möglich ist, um unter realen Verkehrsbedingungen einen Blick über die Schulter des Fahrers zu werfen. Wir können den Einsatz von an Bord befindlichen Fahrzeugsystemen oder Mobiltelefonen in Hinsicht auf Häufigkeit, Dauer und Verkehrssituation überwachen. Die Auswirkungen derartiger Ablenkungen zeigen sich auch anhand der damit verbundenen Veränderungen bezüglich Geschwindigkeit, Spurverlauf und Augenposition, die überaus wichtig für sicheres Fahren sind. Und da uns die Kameradaten überdies einen guten Überblick über das liefern, was rund um das Fahrzeug herum vorgeht, können wir anhand dessen untersuchen, wie die Fahrer mit Fußgängern und Radfahrern interagieren: Wann werden sie wahrgenommen und wie reagiert der Fahrer in Bezug auf die Geschwindigkeit? Letztlich werden die Daten neben der Erkundung der Straßenverkehrssicherheit auch dazu verwendet, das umweltbewusste Fahren zu untersuchen. Möglicherweise könnten sie in anderen Bereichen wie Verkehrsmanagement und infrastrukturellen Fragen genutzt werden. Was waren die Hauptkriterien für die Auswahl der Einsatzorte? Die sieben Gegenden wurden so ausgewählt, dass ganz Europa in allen Himmelsrichtungen gut vertreten ist. Überdies herrschen in den ausgewählten Ländern unterschiedliche Niveaus der Straßenverkehrssicherheit vor: Es gibt Länder mit relativ hohen, mittleren und niedrigen Verkehrssicherheitsbilanzen. War es leicht, Freiwillige zu finden? Ja und nein. Es sind wirklich viele Freiwillige an einer Teilnahme an der Studie interessiert - in diesem Sinne ist es nicht schwer, Freiwillige zu finden. Das Studiendesign stellt jedoch sehr spezielle Anforderungen an die Teilnehmer, sei es etwa die Marke und das Modell des Fahrzeugs. Und nur eine begrenzte Anzahl der Leute erfüllt diese Auswahlkriterien, was es schwieriger macht, die richtigen Freiwilligen zu finden. Was sind Ihrer Meinung nach die wichtigsten Vorteile der naturalistischen Fahrverhaltensbeobachtungen? Traditionell setzt die Verkehrssicherheitsforschung auf Fahrsimulatoren, mit Instrumenten ausgestattete Fahrzeuge, Berichte mit Eigenangaben, Analysen von Unfallstatistiken und in zunehmendem Maße auf eingehende Unfalluntersuchungen. Diese Methoden haben schon viel zum Verständnis des Verhaltens der Straßenverkehrsteilnehmer beigetragen. Jede einzelne Methode hat jedoch ihre Grenzen. Resultate aus Fahrsimulatorstudien können nicht immer ohne Probleme in reale Verkehrssituationen übertragen werden, was insbesondere für einfachere und statische Simulatoren gilt. Andererseits fahren die Probanden bei Studien mit instrumentierten Fahrzeugen zwar in realen Verkehrsumgebungen, jedoch in einem speziellen, hochgerüsteten Fahrzeug, und haben in der Regel einen Experimentator mit an Bord. So sind sich die Versuchspersonen stets der Tatsache bewusst, dass sie an einem Experiment teilnehmen, was letztlich das Fahrverhalten beeinflussen kann. In beiden Fällen wird es eher schwierig sein, reale Unfälle oder Beinahe-Unfälle zu beobachten. Die Ergebnisse von Selbstbeurteilungsberichten können durch sozial erwünschte Reaktionen sowie Einschränkungen der Wahrnehmung und des Gedächtnisses tendenziös beeinflusst werden. Unfalldaten sind objektiv, aber im Allgemeinen nicht ausreichend, wenn es darum geht, die geeigneten Erklärungen zu liefern. Gründliche Unfallanalysen liefern letztlich wertvolle Informationen darüber, wie und warum ein Unfall passiert ist, basieren jedoch ausschließlich auf Informationen, die nach dem Unfall anhand von nachträglichen Selbstaussagen und Zeugenberichten gesammelt wurden. Bei naturalistischen Fahrverhaltensbeobachtungen (Naturalistic Driving Studies, NDS) werden die Fahrzeugführer auf kontinuierliche Weise unter realen Verkehrsbedingungen beobachtet und sie werden nicht dazu aufgefordert, irgendetwas Bestimmtes zu tun, denn es geht darum, das normale Verkehrsverhalten im normalen Alltagsverkehr zu verstehen. Es gibt keinen Beobachter oder experimentelle Intervention, aber wir können Konflikte, Beinahe-Unfälle oder möglicherweise sogar echte Unfälle ohne den Einfluss der potenziellen Voreingenommenheit von nachträglichen Berichten beobachten. Das ist viel genauer. Die Teilnehmer wissen aber natürlich immer noch, dass sie überwacht werden. Fürchten Sie nicht, dass diese Tatsache ihr Verhalten auf der Straße verändern wird? Aus unseren Erfahrungen der Vergangenheit, die wir mit dieser Methode in einem kleineren Maßstab in Europa und in einem größeren Maßstab in den USA gewinnen konnten, wissen wir, dass die Menschen nach ungefähr einer Woche vergessen, dass sie beobachtet werden. Das ist aus ihrem Verhalten ersichtlich, denn sie tun dann Dinge, die jemand, der weiß, dass er beobachtet wird, normalerweise nicht tut ... zum Beispiel Nasebohren. Außerdem haben wir unsere Teilnehmer in einer früheren Studie dazu befragt, und sie haben erklärt, dass sie die Messgeräte tatsächlich schnell vergaßen und wieder begannen, sich normal zu verhalten. Welche Erkenntnisse hat Ihre Forschung bisher erbracht? Wir beginnen gerade erst mit der Datenerfassung und so ist es noch zu früh, darüber etwa zu sagen. Was werden die nächsten Schritte im Rahmen des Projekts und nach seinem Abschluss sein? Noch vor dem Sommer sollten alle Fahrzeuge auf den Straßen unterwegs sein und Daten sammeln. Der nächste Schritt wird darin bestehen, die Analysen vorzubereiten. Wir entwickeln Instrumente, um auf die Daten zugreifen, eine relevante Auswahl treffen und die Videodaten mit Anmerkungen versehen zu können. Verschiedene Partner werden Analysen zu Schlüsselthemen wie ursächliche Unfallfaktoren und den damit verbundenen Risiken, Ablenkung und Unaufmerksamkeit, ungeschützten Verkehrsteilnehmern und ökologischer Fahrweise durchführen. Überdies sind wir bestrebt, unsere Erkenntnisse in vier spezifischen Bereichen anzuwenden. Dazu zählen insbesondere die Ermittlung neuer und vielversprechender Gegenmaßnahmen, das Potenzial einfacher DAS zur Überwachung von Leistungsindikatoren über die Zeit, die Verbesserung von Fahrverhaltensmodellen zur Straßenverkehrssimulation und die Möglichkeiten kommerzieller Anwendungen von ND-Daten. Das Projekt verfügt nicht über viel Zeit und Budget für Datenanalysen, aber es wird auch nach Projektende immer noch viel Potenzial aufweisen. Eines unserer Ziele besteht darin, diese Daten für weitere Analysen zur Verfügung zu stellen, was aber rechtlichen und ethischen Einschränkungen unterliegt. Weitere Informationen sind abrufbar unter: UDRIVE http://www.udrive.eu/
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