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Inhalt archiviert am 2023-03-06

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Gibt es den kleinen Unterschied im Gehirn tatsächlich?

Alljährlich werden am 8. März, dem internationalen Frauentag, die besonderen Stärken und Fähigkeiten der Frauen dieser Welt gefeiert. Während zwischen Männern und Frauen ganz offensichtlich körperliche Unterschiede bestehen, beschäftigt die Frage nach der Ähnlichkeit ihrer Geh...

Alljährlich werden am 8. März, dem internationalen Frauentag, die besonderen Stärken und Fähigkeiten der Frauen dieser Welt gefeiert. Während zwischen Männern und Frauen ganz offensichtlich körperliche Unterschiede bestehen, beschäftigt die Frage nach der Ähnlichkeit ihrer Gehirne jedoch nach wie vor die Neugierde der Menschen. In einem demnächst im Magazin research*eu erscheinenden Interview spricht Dr. Catherine Vidal, Neurobiologin und Forschungsleiterin am Institut Pasteur in Frankreich, über das Gehirn und die Unterschiede zwischen männlichen und weiblichen Gehirnen. Auf die von research*eu gestellte Frage, ob es denn überhaupt Unterschiede gäbe, antwortete Dr. Vidal: "Die Antwort lautet paradoxerweise ja und nein, und beide Antworten sind durchaus wissenschaftlich begründet. Ja, da das Gehirn die Fortpflanzungsfunktionen steuert." Sie erklärte: "Männliche und weibliche Gehirne sind bei Weitem nicht identisch und das gilt für alle Arten, auch für uns Menschen. Die Fortpflanzung erfordert Hormonsysteme und verschiedene Arten des Sozialverhaltens, die vom Gehirn gesteuert werden." Wie Dr. Vidal anmerkte, sei die Antwort jedoch auch nein, denn, "wenn wir die kognitiven Funktionen betrachten, ist es in erster Linie die Verschiedenheit des Gehirns, die ganz und gar unabhängig vom Geschlecht herrscht"; wobei sie ergänzte, dass "das Gehirn zur Entstehung des Denkens von der Umgebung stimuliert werden muss." Laut Dr. Vidal sieht es so aus, dass bei der Geburt in der Tat nur 10% unserer 100 Milliarden Nervenzellen miteinander vernetzt sind und die übrigen 90% der Verbindungen allmählich, und zwar unter dem Einfluss von Familie, Bildung, Kultur und Gesellschaft, gebildet werden. Im Laufe dieses Entwicklungsprozesses integriert das Hirn externe Komponenten, die mit der Geschichte eines jeden Einflusses in Zusammenhang stehen. "Das nennt man die sogenannte Plastizität des Gehirns", verdeutlichte sie. "Deshalb haben wir alle unterschiedliche Gehirne. Und die Heterogenität zwischen einzelnen Personen vom gleichen Geschlecht ist derart groß, dass sie gegenüber den geschlechtsspezifischen Unterschieden deutlich überwiegt." Außerdem gäbe es, wie sie bemerkte, ein grundlegendes Problem zu bestimmen, welche Verhaltensweisen denn nun angeboren und welche erworben seien. "Das ist eine zentrale Frage, die nun schon seit Jahrhunderten von Philosophen und Wissenschaftlern diskutiert wird", waren ihre Worte dazu. "Auch heutzutage ist es ein mit Ideologien durchsetztes Thema, in dem die Medien geradezu schwelgen." In Hinblick auf die von den Medien oft und gern behauptete zerebrale Spezialisierung zwischen Männern und Frauen gab Dr. Vidal zu bedenken: "Die Theorien zu den hemisphärischen Unterschieden zwischen den Geschlechtern bei der Sprache sind mindestens schon 30 Jahre alt. Sie haben sich in neueren Studien unter Nutzung bildgebender Verfahren, die uns das lebendige Hirn bei der Arbeit zeigen können, nicht bestätigt. An sehr kleinen Teilnehmergruppen durchgeführte Beobachtungen bilden außerdem oft die Grundlage dieser Theorien." Laut Dr. Vidal würden "diese Studien fortgesetzt zitiert, obwohl die zeitgenössische wissenschaftliche Realität inzwischen eine ganz andere ist." Denn die Metaanalyse, die auf den Schlussfolgerungen aller in der wissenschaftlichen Literatur veröffentlichten Experimente basiert und mehrere hundert Männer und Frauen umfasst, zeige, dass es "keinen statistisch signifikanten Unterschied zwischen den Geschlechtern in der hemisphärischen Verteilung der Sprachbereiche gibt", stellte sie klar. Tatsache sei: Die Lage der Sprachbereiche variiere von einem Individuum zum anderen beträchtlich. "Diese Variabilität überwog die mögliche Variabilität zwischen den Geschlechtern erheblich", verdeutlichte Dr. Vidal. Die Forschungsleiterin des Institut Pasteur wies gleichermaßen die Theorie zurück, nach der männliche Gehirne besser zum abstrakten Denken, besonders in der Mathematik, geeignet seien. "Zwei wichtige, letztes Jahr im Fachmagazin Science veröffentlichte Studien untermauern dies", teilte sie mit. In der ersten Studie hätten die 1990 gesammelten Daten gezeigt, dass die Jungen in Mathematik statistisch betrachtet besser als die Mädchen waren, aber die gleiche Umfrage habe im letzten Jahr ergeben, dass die Mädchen ebenso gut wie die Jungen seien. "Die Ergebnisse sind einfach auf die Entwicklung der wissenschaftlichen Bildung sowie die wachsende Vielfalt an wissenschaftlichen Bereichen zurückzuführen." Die letztes Jahr mit einer Teilnehmergruppe von 300.000 Probanden in 40 Ländern durchgeführte zweite Studie hätte gezeigt, dass das aktuelle sozio-kulturelle Umfeld für die Gleichstellung der Geschlechter günstig sei. "Immer mehr Mädchen erzielen gute Testergebnisse in Mathematik", hob Dr. Vidal hervor. "In Norwegen und Schweden sind die Ergebnisse vergleichbar und in Island übertreffen die Mädchen die Jungen." In Korea und in der Türkei sehe es allerdings so aus, dass die Jungen die Mädchen übertrumpfen. Dr. Vidal unterstrich, dass der große Durchbruch in der Forschung auf dem Gebiet der Neurobiologie im Bereich der Hirnplastizität zu sehen sei. Ihrer Meinung nach "ist es nicht länger haltbar, immer wieder die biologischen Unterschiede zwischen den Geschlechtern zu beschwören, um die unterschiedliche Stellung von Männern und Frauen in der Gesellschaft zu rechtfertigen." Dr. Vidals Einschätzungen werden durch eine kürzlich in der Fachzeitschrift Psychological Bulletin erschienene Studie gestützt. Während so mancher denkt, dass die meisten Frauen aufgrund fehlender mathematischer Fähigkeiten keine Karriere auf einem mit Mathematik verbundenen Gebiet angehen, zeigt die Studie, die 35 Jahre Forschung zu Geschlechterunterschieden in der Mathematik analysiert, dass die Frauen das Mathematikstudium deshalb nicht wählten, weil sie sich die Flexibilität zur Gründung einer Familie, zum Aufziehen von Kindern bewahren wollten, oder da sie weniger mathematikintensive wissenschaftliche Gebiete bevorzugten. Die Vorstellung, dass ein Mangel an Fähigkeiten den Grund darstellt, ist somit völlig ungerechtfertigt. Dr. Vidal wies überdies darauf hin, dass auch die Mentalität der Menschen von heute ganz anders sei. "Als 2008 der Nobelpreis in Physiologie oder Medizin gemeinsam an Luc Montagnier und seine wichtigste Mitarbeiterin Françoise Barré-Sinoussi, vergeben wurde, war dies durchaus auf sich verändernde Einstellungen zurückzuführen", gab sie zu bedenken.

Länder

Frankreich

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