Sprachliche Vielfalt schafft neuen Zugang zu Weltliteratur
Der Begriff Weltliteratur – d. h. Literatur, die weltweit gelesen wird – beschränkt sich in der Regel auf englischsprachige Literatur. Obwohl inzwischen auch einige nicht-englischsprachige Literaturschaffende in diesen Literaturkanon aufgenommen wurden, finden Kreativität und Gedankenwelten in Rezensionen und Universitätsseminaren, die nicht in englischer Sprache stattfinden, insgesamt noch kaum Beachtung. Daher gelten Werke, die nicht in englischer Sprache vorliegen bzw. nicht weltweit gelesen werden, als provinziell und genügen nicht dem Anspruch an „Weltliteratur“. „Hier stellt sich aber primär die Frage: Wessen Welt ist das eigentlich?“ so Francesca Orsini, Projektkoordinatorin von Mulosige und emeritierte Professorin für indische und südasiatische Literatur an der Hochschule für Orientalistik und Afrikanistik (SOAS) der Universität London im Vereinigten Königreich. „Und wer entscheidet, wann ein Werk das Prädikat ‚Weltliteratur‘ verdient?“ Orsini argumentiert, dass bisherige Ansätze nicht genügen, um Weltliteratur in ihrer ganzen Fülle zu erschließen. „Letztlich finden sich im literarischen Kanon nur Booker- und Nobelpreisträgerinnen bzw. -träger“, sagt sie, „aber was ist mit den vielen anderen Literaturschaffenden? Weltliteratur kann wesentlich mehr, als eine Sprache oder Kultur einem westlichen Publikum ‚vorzustellen‘.“
Unterschiedliche Perspektiven
Das vom Europäischen Forschungsrat unterstützte Projekt Mulosige sollte verschiedenste neue Ansätze für die Rezeption von Weltliteratur fördern und stellte mehrere Schlüsselkonzepte vor, etwa sprachliche Vielfalt. Als Fallstudien dienten literarische Werke aus Nordindien, den Maghreb-Staaten und den Ländern am Horn von Afrika. „In den meisten, wenn nicht sogar allen Regionen der Welt, herrscht sprachliche Vielfalt“, fügt Orsini hinzu. „Allerdings wird Literatur oft einsprachig und national gedacht, also im Sinne von „der indischen“ oder „der deutschen“ Literatur. Noch allzu oft unterliegen Sprachen einer hierarchischen Abstufung und damit quasi einer Konkurrenz.“ Das Projekt betont die Bedeutung lokaler Kontexte oder – wie es dort heißt – der mehrsprachigen Einheimischen. In Marokko beispielsweise findet sich noch oft eine Trennlinie, je nachdem, ob die Werke in französischer oder arabischer Sprache verfasst sind, als ob sie nicht ein- und demselben Milieu entstammen. Ziel des Projekts war es, die Verbindung zwischen Literaturschaffenden beider Sprachen wiederherzustellen („gemeinsam zu lesen“), die Wichtigkeit dieser Verbindung hervorzuheben und in sprachlicher Vielfalt eine Bereicherung statt ein Hemmnis zu sehen. „Wir betrachteten das Thema auch einmal aus grundsätzlicher Sicht“, merkt Orsini an, „und fragten uns, wie etwa in Delhi oder Fès das Konzept Weltliteratur verstanden wird, denn je nach Heimatort ist auch die Perspektive eine andere.“ So konstatierte die Arbeitsgruppe etwa, dass der Kalte Krieg für sämtliche Literatur eine Rolle spielt, auf lokaler Ebene jedoch sehr unterschiedliche literarische Deutungen existieren, und dass Literatur oft die Kluft zwischen beiden Blöcken überwindet. Dies geht zurück auf das gemeinsame Erfahren von Kolonialismus und die Entstehung der Dritten Welt als identifizierbarer Einheit.
Das enorme Potenzial von Literatur
Diese Schlüsselkonzepte brachte das Projekt im Rahmen von Seminaren und Workshops in die wissenschaftliche Diskussion ein. „Auf diese Weise wollen wir die Art und Weise verändern, wie Weltliteratur gelehrt wird, und Ansätze fördern, die lokale und regionale Sichtweisen auf die ‚Welt‘ und die vergleichende Literaturwissenschaft betonen“, erklärt sie. Das Projekt erhofft sich auch Veränderungen jenseits der reinen wissenschaftlichen Forschung. Hierzu wurde ein öffentliches digitales Archiv erstellt, das neben Lehrmodulen auch Übersetzungen und Podcasts enthält. Der rote Faden, der sich durch all diese Quellen zieht, ist die Bedeutung von sprachlicher Vielfalt im literarischen Schaffen und von lokalen Kontexten für die weltweite Entwicklung. „In London zum Beispiel werden mehr als 300 Sprachen gesprochen, die wir in Geschichten, Gedichten, Liedern und Büchern hören und sehen“, sagt Orsini. „Auf einem Literaturfestival wurden jüngst Werke aus London in Somali, Hindi, Chinesisch und anderen Sprachen gelesen. Und durch Übersetzungen können sie uns weit mehr zeigen als das, was üblicherweise rezensiert und beworben wird.“
Schlüsselbegriffe
Mulosige, Literatur, sprachliche Vielfalt, englischsprachig, westlich, Hindi, Maghreb-Staaten, Afrika