Adaptive Immunität bei Wirbeltieren mit und ohne Kiefer
Obwohl alle Tiere ein Immunsystem haben, verfügen nur bestimmte Arten über eine sogenannte adaptive Immunität. Adaptive Immunität zeichnet sich durch Spezifität und immunologisches Gedächtnis aus und ist ausschließlich bei Wirbeltieren zu beobachten. Zwar profitieren alle Wirbeltiere von dem langfristigen Schutz vor Krankheiten, den die adaptive Immunität bietet, dennoch verfügen nicht alle Wirbeltiere über die gleiche Art eines adaptiven Immunsystems. Das liegt darin begründet, dass sich die Wirbeltiere vor etwa 500 Millionen Jahren aufspalteten und sich zu zwei getrennten Gruppen weiterentwickelten, die jeweils ihre eigene Form der adaptiven Immunität aufwiesen. „Während das Immunsystem von Wirbeltieren mit Kiefer, zu denen Haie und Menschen gehören, bereits gut charakterisiert ist, gibt es über die adaptive Immunität kieferloser Wirbeltieren wie etwa der Neunaugen und Schleimaale noch viel zu lernen“, berichtet Thomas Boehm(öffnet in neuem Fenster), Forscher am Max-Planck-Institut für Biologie Tübingen(öffnet in neuem Fenster) in Deutschland. Mit Unterstützung des Projekts ImmUne arbeitete Boehm daran, gemeinsame Gestaltungsprinzipien der adaptiven Immunität in beiden Wirbeltierlinien zu ermitteln und gleichzeitig kritische Unterschiede herauszustellen. „Im Wesentlichen geht es bei unserer Arbeit darum, die vielen Wege nach Rom zu finden“, fügt Boehm hinzu. Das Projektteam erhielt eine Finanzierung des Europäischen Forschungsrats(öffnet in neuem Fenster).
Konvergente Evolution der Wirbeltiere im neuen Licht betrachten
Mithilfe von Experimenten zur genetischen Interferenz bei Neunaugen und anhand der Untersuchung der genetischen Komplementation bei Mäusen konnten die Forschenden die konvergente Evolution der Wirbeltiere in ein neues Licht rücken. Beispielsweise entdeckte das Projektteam, dass das Schlüsselgen, das den Prozess der Produktion von T-Zellen im Thymus steuert, die eine wichtige Funktion bei der Abwehr von Infektionen innehaben, sowohl im Immunsystem des kieferlosen Neunauges als auch in dem seiner mit Kiefer ausgestatteten Schwesterart zu finden ist. „Dieser Befund zeigt, dass die primären lymphatischen Organe und Lymphozytenlinien ein Kernelement der adaptiven Immunität bei Wirbeltieren bilden“, erklärt Boehm.
Ähnlichkeiten im adaptiven Immunsystem der Wirbeltiere finden
Eine weitere Gemeinsamkeit zwischen den beiden Verzweigungen der Wirbeltiere besteht darin, dass beide dieselben Enzyme (Cytidindesaminasen) zur Bildung von Antigenrezeptoren nutzen, jenen Oberflächenproteinen, die die Immunantwort auslösen. Das gestattet die Schlussfolgerung, dass die Genkonversion und nicht eine Rekombination genetischer Elemente durch andere Arten von Genomeditierungsenzymen den ältesten evolutionären Mechanismus für die somatische Diversifizierung von Antigenrezeptorgenen darstellt. „Unsere Arbeit hat unerwartete Einblicke in den evolutionären Ursprung des somatischen Diversifizierungsprozesses von Antigenrezeptorgenen geliefert, was der wohl revolutionärste Aspekt der Wirbeltierimmunität sein dürfte“, merkt Boehm an.
Den Wert der vergleichenden Immunologie hervorheben
Auch wenn es bereits Hinweise darauf gab, dass die adaptiven Immunsysteme von Wirbeltieren mit und ohne Kiefer gewisse Ähnlichkeiten aufweisen könnten: Im Zuge des Projekts ImmUne konnte es bewiesen werden. Das Team lieferte gleichermaßen eine Grundlage für zukünftige Untersuchungen der vielen Varianten der adaptiven Immunität, die bei den mehr als 60 000 Wirbeltierarten zu finden sind, wobei diese Arbeit die Entdeckung gemeinsamer Komponenten und die Ermittlung artspezifischer Lösungen für die Immunabwehr ermöglicht. „Unsere Ergebnisse demonstrieren, wie wertvoll es ist, die vergleichende Immunologie zur Ermittlung allgemeiner Eigenschaften der adaptiven Immunität einzusetzen und die verschiedenen Wege zu erkunden, die die Natur eingeschlagen hat, um dasselbe Ziel zu erreichen“, fasst Boehm zusammen. „Sie unterstreichen ebenfalls, wie wichtig es ist, die Vielfalt der lebenden Wesen zu erhalten, da sie ganz eindeutig direkt oder indirekt für die Gesundheit und das Wohlbefinden des Menschen von Bedeutung ist.“