Der überraschende Grund, warum die Gesellschaft derart gespalten ist
Wirtschaftliche Unsicherheit, Ungleichheit und Unzufriedenheit, Enttäuschung über die Regierung, der russische Krieg gegen die Ukraine, die Migrationspolitik und der Klimawandel haben soziale und politische Spannungen entstehen lassen. Das Narrativ vom „Wir gegen die Anderen“ ist in ganz Europa wiederauferstanden. Um den Ursachen dieses Phänomens auf den Grund zu gehen, untersuchte ein Forschungsteam der Medizinischen Universität Wien die von 2008 bis 2010 weltweit zunehmende politische und soziale Polarisierung. Dieser Zeitraum fiel mit einem durch die aufkommende digitale Medienlandschaft bedingten dramatischen Wandel in der Art und Weise zusammen, wie Menschen sozial miteinander in Kontakt treten. Die Forschenden erarbeiteten ein mathematisches Modell, um dieses Phänomen zu untersuchen. Die Ergebnisse wurden in der Fachzeitschrift „Proceedings of the National Academy of Sciences“(öffnet in neuem Fenster) veröffentlicht.
Einigkeit macht stark
„Die große Frage, die nicht nur uns, sondern viele Länder derzeit beschäftigt, ist, warum die Polarisierung in den letzten Jahren derart dramatisch zugenommen hat“, kommentierte Mitautor Stefan Thurner, Professor an der Medizinischen Universität Wien, in einer Pressemeldung(öffnet in neuem Fenster). „Denn dieser Anstieg geschah plötzlich, zwischen 2008 und 2010.“ Die Ursache könnten in den sozialen Beziehungen begründet liegen. „Jahrzehntelang haben soziologische Studien ergeben, dass Menschen im Durchschnitt nur mit zwei Leuten eng befreundet sind – Menschen, die ihre Meinung zu wichtigen Themen beeinflussen könnten“, fügte er hinzu. „Um das Jahr 2008 herum gab es einen starken Anstieg von durchschnittlich zwei auf vier oder fünf enge Freundinnen und Freunde“, erklärte Mitautor Jan Korbel, Postdoktorand an derselben Einrichtung.
Das Paradoxon
Doch anstatt sie zu vereinen, spaltete diese Art der sozialen Verbundenheit die Menschen. Die Polarisation nahm stark zu. „Dieser Erkenntnis hat uns ziemlich beeindruckt, da sie eine grundlegende Erklärung für die merkwürdige Form der Polarisierung liefern könnte, die wir gegenwärtig in vielen Teilen der Welt gleichzeitig in einer Variante beobachten, die definitiv die Demokratie bedroht“, so Thurner weiter. „Sind Menschen stärker miteinander verbunden, so treffen sie häufiger auf unterschiedliche Meinungen“, fügte Korbel hinzu. „Daraus ergeben sich unweigerlich mehr Konflikte und damit eine stärkere gesellschaftliche Polarisierung.“ Polarisierung stellt innerhalb der Gesellschaft keine neue Dynamik dar. Heutzutage scheint sie jedoch robuster und tiefer verwurzelt als in der Vergangenheit zu sein. Innovationen auf dem Gebiet der digitalen Kommunikation und insbesondere der sozialen Medien führten zu weniger, aber enger vernetzten Gruppen mit extrem gegensätzlichen Ansichten. „Es gibt nur wenige Brücken zwischen diesen ‚Blasen‘, und wenn es sie gibt, sind sie oft negativ geprägt oder sogar mit Feindseligkeit belastet“, erklärte Korbel. „Das Ganze wird als Fragmentierung bezeichnet und stellt ein neues soziales Phänomen dar“, erläuterte Thurner weiter. Es wurden umfangreiche Daten aus Tausenden vorhandenen Umfragen zusammengetragen. Die Forschenden nutzten über 27 000 Umfragen des Pew Research Center in den Vereinigten Staaten, um die Polarisierung zu messen. Sie analysierten Freundschaftsnetzwerke, indem sie dreißig verschiedene Umfragen mit mehr als 57 000 Befragten aus Europa und den Vereinigten Staaten miteinander kombinierten. Die Autoren betonten außerdem, wie wichtig es sei, sich proaktiv mit unterschiedlichen Ansichten auseinanderzusetzen und Toleranz aktiv zu fördern, um die weitere Fragmentierung der Gesellschaft zu verhindern. Im Rahmen einer weiteren Studie(öffnet in neuem Fenster) wurden mehr als 8 700 Facebook-Posts von politischen Parteien in dreizehn EU-Mitgliedstaaten analysiert. Das Ziel lautete herauszufinden, ob die Beiträge kontroverse Themen aufwarfen und wie diese im Vorfeld der Wahl zum Europäischen Parlament 2024 dargestellt wurden. Die Ergebnisse legten offen, dass populistische Parteien bewusst spaltende Themen auswählten und somit letztlich eine Spaltung der Gesellschaft herbeiführten. Auf die eine oder andere Art liegt es nun an uns allen, Toleranz und Einigkeit zu predigen und zu praktizieren, anstatt Zwietracht zu säen, ganz unabhängig davon, mit welchen sozialen Mitteln dies geschieht.