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Inhalt archiviert am 2024-04-23

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Feature Stories - Verbesserte Gehirn-Computer-Schnittstelle verspricht neue Ebene der Selbstständigkeit für Behinderte

In dem amerikanischen Action-Thriller "Surrogates - Mein zweites Ich" von 2009 sieht die Zukunft so aus, dass sich die Menschen im wahren Leben von ferngesteuerten Robotern vertreten lassen, während sie selbst kaum noch die Sicherheit ihrer eigenen vier Wände verlassen. Von dieser Science-Fiction sind wir noch sehr weit entfernt, aber die durch EU-Finanzmittel unterstützten jüngsten technischen Fortschritte bringen solche visionären Technologien einen Schritt näher an die Realität und können behinderten Menschen mehr Autonomie und Unabhängigkeit als jemals zuvor verschaffen.

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Von an den Rollstuhl gefesselten Verkehrsunfallopfern bis hin zu Menschen, die in vollständiger Lähmung oder im Locked-in-Syndrom gefangen sind, haben Millionen Europäer an irgendeiner Form der motorischen Behinderung zu leiden, die sie in ihrer Fähigkeit sich zu bewegen, mit anderen zu interagieren oder zu kommunizieren einschränkt. In den letzten Jahren sind viele Technologien entwickelt worden, die Menschen mit derartigen Behinderungen eine Hilfe dabei sind, selbständiger und autonomer leben zu können. Nun werden diese Technologien verbessert und zu einem innovativen Hybridsystem zusammengeführt, das es dem Nutzer ermöglichen wird, einen Roboter allein mit der Kraft der Gedanken zu betreiben, in virtuellen Umgebungen zu interagieren, Beleuchtung, Heizung und andere Geräte in der Wohnung per Fernsteuerung zu bedienen und einfacher mit Freunden und Familie zu kommunizieren. "Unser erklärtes Ziel ist es, Menschen mit motorischen Behinderungen so viel Autonomie zu verschaffen, wie es die Technik derzeit leisten kann, und dadurch deren Lebensqualität ganz erheblich zu verbessern", betont Felip Miralles vom Barcelona Digital Technology Centre, einem spanischen IKT-Forschungszentrum. Felip Miralles koordiniert das BrainAble-Projekt *, eine auf drei Jahre angelegte Initiative, die von der Europäischen Kommission mit 2,3 Millionen EUR Finanzmittel unterstützt wird, und deren Aufgabe die Entwicklung einer Reihe verschiedener Technologien, Dienstleistungen und Anwendungen sowie deren Integration in ein kommerzielles System für Menschen mit motorischen Behinderungen ist. Das BrainAble-Team arbeitet an modernen Systemen für Gehirn-Computer-Schnittstellen (Brain-Computer Interface, BCI), Umgebungsintelligenz (Ambient Intelligence, AmI), virtuelle Realität (VR) und andere Technologien, die schon einzeln wichtige Vorteile für Menschen mit Behinderungen zu bieten haben und in Kombination eine bisher nie erreichte Autonomie versprechen. Die Forscher kombinierten Gehirn-Computer-Schnittstellen mit weiteren unterstützenden Technologien und konnten so eine Anwendung entwickeln, mit deren Hilfe der Nutzer einen Roboter mit Telepräsenzfunktionen fernsteuern kann. Der Anwender kann den Roboter rund ums Haus manövrieren, verschiedene Aktionen durchführen und sogar mit Menschen kommunizieren, ohne dabei das Bett verlassen zu müssen. Ähnliche Technik ermöglicht es dem Nutzer gleichermaßen, einen Avatar in einer virtuellen Umgebung zu betreiben. Dabei können das Trainieren der Rollstuhlsteuerung oder eines Roboters in einer realen Umgebung oder auch die soziale Interaktion im Mittelpunkt stehen. Speziell zum BrainAble-Projekt gab die Vizepräsidentin der Europäischen Kommission Neelie Kroes im Dezember zu bedenken: "Können Sie sich den Unterschied vorstellen, den [diese Technologie] ausmachen könnte? Eine echte neue Chance auf Eigenständigkeit, sich wieder äußern zu können, und wieder in der Lage zu sein, Aufgaben zu meistern, die für die meisten von uns eine Selbstverständlichkeit sind." Für Menschen beispielsweise, die an schweren Lähmungen und Locked-in-Syndrom leiden, sind BCI-Technologien oft der einzige Weg, um zu kommunizieren und auf Dinge zu reagieren. BCI-Systeme funktionieren mit Implantaten oder über mit Sensoren ausgestattete Headsets, die vom Gehirn erzeugte elektromagnetische Wellen messen. Die Nutzer werden darin geschult, wie Elektroenzephalografiesignale (EEG) zu erzeugen sind, die das System in Aktionen umsetzen kann. Es ist fast sensationell: Ein BCI-System versetzt jemanden, der ansonsten nur seine Augen bewegen kann, in die Lage, etwas mitzuteilen, per Fernbedienung ein Licht einzuschalten, um Hilfe zu bitten, einen Rollstuhl oder Roboter in der realen Welt oder einen Avatar in einer virtuellen Umgebung zu steuern. Mehr als Gehirn-Computer-Schnittstellen Trotz der in den letzten Jahren auf dem Gebiet der Gehirn-Computer-Schnittstellen erzielten erheblichen Fortschritte bleiben BCI-Systeme langsam - allein schon die Ausführung einer einzigen Aktion kann einige Sekunden dauern. Die BrainAble-Forscher wollen diesen Nachteil mit der Einbettung von Intelligenz in ihre Plattform überwinden, so dass das System das Umfeld und die Gewohnheiten des Anwenders versteht und proaktiv reagieren kann. "Wenn jemand seinen Fernseher normalerweise immer abends um sieben Uhr einschaltet, dann wird diese Option auf vereinfachte Weise an der Schnittstelle zur Verfügung gestellt werden, um zu dieser Zeit leichter auf sie zugreifen zu können. Das System lernt aus den Gewohnheiten des Nutzers und versucht, den Kontext zu verstehen, in dem sie auftreten", erklärt Miralles. "Außerdem werden wir Umgebungsintelligenz einbinden, so dass wir auf passive Weise die EEG-Signale überwachen können, um festzustellen, wie müde oder aufmerksam jemand ist. Ist der Nutzer müde, kann die Schnittstelle automatisch vereinfacht werden, so dass sie leichter zu bedienen ist." Bei jemanden, der über einige motorische Fähigkeiten verfügt, kann die Gehirn-Computer-Schnittstelle in Kombination mit anderen unterstützenden Computerschnittstellentechnologien wie Eyetracking (Blickbewegungsregistrierung) oder EMG-Schaltern (Elektromyografie) verwendet werden, die auf durch kleinste Muskelbewegungen erzeugte elektrische Signale reagieren. "Zum Beispiel kann eine auf den Rollstuhl angewiesene Person die Gehirn-Computer-Schnittstelle zum Steuern der Bewegungen des Rollstuhls nutzen und dann anschließend einen Schalter zum Öffnen einer Tür verwenden", erklärt der Projektkoordinator. "Dieses Hybridsystem hat eine deutlich verbesserte Benutzerfreundlichkeit zu bieten. Ziel ist ein vielseitiges System, das möglichst flexibel an die Bedürfnisse jedes einzelnen Nutzers anpassbar ist. Einige Technologien sind für Menschen mit bestimmten Arten von Behinderung nützlicher als andere - und je nach Lebenslage der Menschen wechseln auch deren Bedürfnisse." Die BrainAble-Plattform beinhaltet außerdem Middleware, die einen vereinfachten Zugriff auf Plattformen sozialer Netzwerke wie Twitter und Facebook ermöglicht, die zu immer wichtigeren Werkzeugen werden, wenn es darum geht, behinderte Menschen bei der Überwindung von sozialer Isolation zu unterstützen. "Die regulären Twitter- oder Facebook-Schnittstellen sind zu kompliziert, um mit unterstützenden Technologien wie BCI genutzt werden zu können. So haben wir eine Schicht zwischen die unterstützenden Technologien und die Schnittstelle der sozialen Netzwerke eingeschoben, um die Nutzung der wichtigsten Funktionen zu erleichtern", erläutert Miralles. Das BrainAble-Team kombiniert nun sämtliche Technologien und Dienstleistungen in einem Prototypen eines intelligenten Zuhauses, der das in ihrer Arbeit steckende volle Potenzial demonstrieren wird. Entscheidend dabei ist, dass sich die Forscher streng an Smart-Home-Standards halten werden, so dass die Einbeziehung eines neuen Geräts oder einer neuartigen Dienstleistung - egal, ob es sich um einen Heizungsregler oder eine Social-Networking-Anwendung handelt - so einfach wie Plug-and-Play ist. Der Smart-Home-Demonstrator wird außerdem dazu dienen, die BrainAble-Resultate auf kommerzieller Ebene zu fördern. "Es gibt ein großes Interesse an diesem Forschungsbereich, und ich kann mir ohne Weiteres innerhalb der nächsten fünf bis sieben Jahre wettbewerbsfähige, etablierte Produkte auf dem Markt vorstellen", ist sich Felip Miralles sicher. Der österreichische Projektpartner Guger Technologies plant, die Forschungsergebnisse in seine BCI-Produkte zu integrieren, und auch Elemente der Umgebungsintelligenz hinzuzufügen, um stärker integrierte Systeme zu schaffen. BrainAble-Partner Meticube, eine portugiesische Softwarefirma, ist an der Einbeziehung von BCI-Funktionen und intelligenten Umgebungsfeatures interessiert und sieht dies als einen Weg zur Verbesserung der Interaktion von Geräten und Dienstleistungen in Smart Homes. Und das nicht nur für Behinderte, sondern auch für ältere Menschen und weitere Gruppen unserer Gesellschaft. "Es gibt da draußen einen riesigen Markt für diese Art von Technologien - und zwar nicht nur Menschen mit schweren motorischen Behinderungen. Insbesondere ältere Menschen werden von dieser Forschung profitieren, und sogar Spieler könnten sie anwenden, sobald die BCI-Technik zuverlässig und schnell genug ist", erklärt der BrainAble-Koordinator. BrainAble erhielt Forschungsmittel innerhalb des Siebten Rahmenprogramms der Europäischen Union (RP7). Das Projekt wurde überdies als Aussteller auf dem letzten Konvent der Innovationsunion (Innovation Convention 2011) in Brüssel ausgewählt. BrainAble folgt ein neues EU-finanziertes Projekt mit dem Titel BackHome ("Brain-neural computer interfaces on track to home Development of a practical generation of BNCI for independent home use"), das ebenfalls von Barcelona Digital koordiniert wird. BackHome wird sich nicht nur auf den Einsatz von BCI-Technologie für selbstständiges Leben, sondern für Zwecke der Rehabilitation und zur Fernüberwachung von Menschen mit neurologischen Erkrankungen konzentrieren. * "Autonomy and social inclusion through mixed-reality brain-computer interfaces: connecting the disabled to their physical and social world" Nützliche Links: - Projekt-Website "Autonomy and social inclusion through mixed reality Brain-Computer Interfaces: Connecting the disabled to their physical and social world" - BrainAble-Projektfactsheet auf CORDIS - Brainable project at the Innovation Union Convention Weiterführende Artikel: - Blog von Neelie Kroes, der Europäischen Kommissarin für die Digitale Agenda, zum Thema: ICT and disability: achieving a better world for all - EU-Projekt führt Roboterarm auf Medizinmesse vor