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Inhalt archiviert am 2024-04-23

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ERC Storys - Reverse Engineering in spätgotischen Deckengewölben

Die gotische Architektur aus dem Hoch- und Spätmittelalter zwischen dem 12. und dem 16. Jahrhundert n. Chr. brachte Europa einige der beeindruckendsten Kathedralen, Münster und Kirchen sowie architektonische Perlen wie Paläste, Rathäuser und Gildehäuser. Ein wichtiger Aspekt dabei waren die auf innovative und ehrgeizige Weise konstruierten und erbauten Deckengewölbe, die die Schaffung der riesigen Freiflächen dieser Periode erst möglich machten. Doch wie sind die mittelalterlichen Architekten bei der Gestaltung dieser riesigen komplexen Monumente vorgegangen? Und wie konnten sie in einer Zeit ohne Computer und Konstruktionssoftware ihre Visionen darstellen und in ein verwertbares Format für die Baumeister und Steinmetze bringen?

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Um Antworten auf diese Fragen liefern zu können, will Dr. David Wendland von der Technischen Universität Dresden mithilfe eines ERC Starting Grant Licht auf unbekannte Aspekte der mittelalterlichen "Wissensgesellschaft" werfen. "Diese Forschungsarbeit befasst sich mit der Sprache der Geometrie", erklärt Dr. Wendland. "Je reicher die Sprache ist, desto komplexere Strukturen kann man bauen. Um eine Form bauen zu können, musst Du in der Lage sein, sie zu beschreiben. Das gilt heute genauso wie damals. In der spätgotischen Zeit um 1500 n. Chr. passiert in der Architektur unheimlich viel: mehr Innovation, mehr Komplexität - aber wir haben nur wenige Hinweise auf die Fachsprache dieser spätgotischen Baumeister. Wir wissen nur wenig über ihre Möglichkeiten oder darüber, wie ihre Kenntnisse in Geometrie und ihre Fähigkeit, diese auf andere zu übertragen, sie einerseits ermächtigten und andererseits Ihre Grenzen aufzeigten." Rückwärts vorgehen Bisher haben sich die Historiker auf die wenigen überlieferten Originalquellen berufen. "Es sind zwar geometrischen Zeichnungen und Texte erhalten, das Meiste ging allerdings verloren", sagt Dr. Wendland. "Es gibt zum Beispiel ein Textfragment aus der Pfalz in Deutschland und einen längeren Text aus Segovia in Spanien, die wir sorgfältig studieren. Das sind wichtige Zeugnisse, aber sie reichen nicht aus. Also wählen wir einen innovativen Ansatz, bei dem wir die einzelnen Produktionsstufen zurückgehen: das Reverse Engineering." Angefangen bei der Untersuchung gotischer Gebäude arbeitet sich Dr. Wendland weiter nach hinten bis zum Bauprozess und nutzt dabei eine Reverse-Engineering-Software aus der Automobilindustrie. "Bei Autos steht das neue Design am Anfang: die detaillierte äußere Form und die Innenräume eines neuen Modells. Erst dann erhalten die Ingenieure den Entwurf, um die funktionalen Elemente einzupassen und zu bestimmen, wie das in einer Produktionsumgebung ablaufen wird. Dazu nutzen sie Reverse Engineering", erklärt er. "Für uns ist das ein neuer Ansatz, denn Kunsthistoriker betrachten in der Regel fertige Produkte und nicht den kreativen Prozess." Vergangenes und zukünftiges Know-how Indem man versteht, wie diese Strukturen entwickelt und gebaut wurden, so die Zielsetzung, will man herausfinden, wie dieses Wissen weitergegeben wurde, nicht nur auf den Baustellen des Mittelalters, sondern auch in ganz Europa zwischen Architekten und Baumeistern. Ähnlichkeiten zwischen deutschen und spanischen Bauweisen beweisen, dass der Informationsaustausch stattgefunden hat. Eine bessere Vorstellung von den Mechanismen des Wissenstransfers und davon, wie diese mit lokalen Einschränkungen durch die verfügbaren Baustoffe kombiniert wurden, wird Licht auf die Arbeits- und sozialen Praktiken der Zeit werfen. Die Forschungen von Dr. Wendland dienen auch einem moderneren Zweck: der Konservierung und Restaurierung gotischer Gebäude. "Heute können Restauratoren oft nur auf Anleitungen aus der Neugotik des 19. Jahrhunderts oder moderne Baumethoden zurückgreifen. Hierbei werden aber nicht Originalbauweise und -struktur erhalten - es geht mit modernen Lösungen um die Fassade. Mit einem besseren Verständnis der traditionellen Technologien werden wir diese Gebäude und das kulturelle Erbe, das sie zum Ausdruck bringen, für zukünftige Generationen im Sinne ihrer ursprünglichen Erbauer besser bewahren können." Einzelheiten zum Projekt: - Leitender Forscher/Leitende Forscherin: Dr. Ing. David Wendland - Gasteinrichtung: Technische Universität Dresden, Deutschland - Projekt: Design principles in Late-Gothic vault construction – a new approach based on surveys, reverse geometric engineering and a reinterpretation of the sources (REGothicVaultDesign)) - ERC-Aufforderung: Starting Grant 2011 - ERC-Finanzierung: 1,1 Mio. EUR - Projektdauer: fünf Jahre Neueste Veröffentlichungen - Wendland, D. "Rodrigo Gil de Hontañóns Handbuch zum spätgotischen Kirchenbau". In Kirche als Baustelle: Große Sakralbauten des Mittelalters, Hrsg. B. Klein K. Schröck und S. Bürger. Köln: Böhlau, 2012 (in Druck). - Wendland, D. "Research on ‘Cell Vaults’: Analytic and Experimental Studies on the Technology of Late Gothic Vault Construction". In Proceedings 8th International Conference on Structural Analysis of Historical Constructions, Wroclaw 2012. - Wendland, D. "Arches and Spirals – The Geometrical Concept of the Curvilinear Rib Vault in the Albrechtsburg at Meissen and Some Considerations on the Construction of Late-Gothic Vaults with Double-Curved Ribs". In Nuts & Bolts of Construction History: Culture, Technology und Society, Hrsg. R. Carvais et al., 351-357. Paris: Picard, 2012. - Wendland, D. "Form, Konstruktions- und Entwurfsprinzipien von spätgotischen Zellengewölben – „reverse engineering" und experimentelle Archäologie". In Koldewey-Gesellschaft, Bericht über die 46. Tagung für Ausgrabungswissenschaft und Bauforschung Konstanz 2010, Hrsg. K. Tragbar, 255-266. Dresden: Thelem, 2012. - Wendland, D. Lassaulx und der Gewölbebau mit selbsttragenden Mauerschichten. Neumittelalterliche Architektur um 1825-1848. Petersberg: Imhof, 2008. Weitere Informationen - Einzelheiten zum Projekt auf CORDIS - Video über die Rekonstruktion gotischer Gewölbe (in Deutsch)Prof. Zilitinkevichs PBL-PMES Projektwebsite