Neuer wissenschaftlicher Ansatz für die Risikobewertung von Substanzen mit genotoxischen und kanzerogenen Eigenschaften in Lebensmitteln
In einem am 3. November veröffentlichten Gutachten schlägt der Wissenschaftliche Ausschuss der Europäischen Behörde für Lebensmittelsicherheit (EFSA) einen harmonisierten und transparenten wissenschaftlichen Ansatz Europas für die Risikobewertung von Substanzen mit sowohl genotoxischen als auch kanzerogenen Eigenschaften vor. Genotoxische und kanzerogene Substanzen können direkt mit dem genetischen Material (DNS) in den Körperzellen interagieren und Krebs verursachen. Bei diesen Substanzen wird allgemein angenommen, dass eine Exposition nicht wünschenswert ist, da selbst geringe Aufnahmemengen - insbesondere bei regelmäßigem Verzehr - mit Risiken verbunden sein können. Dieses Gutachten bezieht sich vor allem auf die Aufnahme über Lebensmittel. Eine der problematischsten Aufgaben im Bereich der Lebensmittelsicherheit ist die Herausgabe von Empfehlungen zu potenziellen Risiken für die menschliche Gesundheit, die von diesen Substanzen herrühren. Da es zurzeit international keinen wissenschaftlichen Konsens über den besten Ansatz zur Bewertung dieses Risikos gibt und da weltweit verschiedene Konzepte Anwendung finden, ersuchte die Europäische Behörde für Lebensmittelsicherheit den Wissenschaftlichen Ausschuss, einen harmonisierten Ansatz für die EU vorzuschlagen. In zahlreichen Ländern und insbesondere in der Europäischen Union besteht die Empfehlung bislang darin, die Exposition gegenüber derartigen Substanzen so weit zu minimieren, wie dies vernünftig erreichbar ist (als ALARA-Prinzip bezeichnet - "as low as reasonably achievable"). Eine solche Empfehlung bietet den Risikomanagern jedoch keine Grundlage, um Prioritäten für Maßnahmen zu setzen, und zwar weder im Hinblick auf die Dringlichkeit noch in Bezug auf den Umfang der erforderlichen Maßnahmen. Mehrere der zurzeit für die Risikobewertung dieser Substanzen verwendeten Ansätze berücksichtigen den Umstand, dass sich die Substanzen hinsichtlich ihres kanzerogenen Potenzials unterscheiden, d. h., dass sie sich, bei einer gegebenen Dosierung, in ihrer Wahrscheinlichkeit einen Tumor zu induzieren, unterscheiden. Da Daten aus Untersuchungen am Menschen nur selten vorliegen, werden entsprechende Daten über das kanzerogene Potenzial meist aus Laboruntersuchungen mit Nagern abgeleitet. Bei diesen Studien werden Tieren während eines Großteils ihres Lebens hohe Dosierungen der betreffenden Substanzen verabreicht, sodass sich eine nachweisbare und statistisch signifikante Tumorinzidenz nachweisen lässt. Um Ratschläge für die möglichen Folgen für Menschen erteilen zu können, muss die Bedeutung dieser Ergebnisse in Bezug auf Tiere im Kontext der menschlichen Expositionsniveaus interpretiert werden, die gewöhnlich wesentlich geringer sind als die im Rahmen von Laborstudien verabreichten Dosen. Um von den hohen verabreichten Dosen im Tierexperiment auf die niedrigeren Aufnahmemengen beim Menschen extrapolieren zu können, wurde ein breites Spektrum an Modellen entwickelt. Dieser Ansatz ist jedoch unzuverlässig, da sich die Daten je nach ausgewähltem Modell ändern. Der Wissenschaftliche Ausschuss empfiehlt daher die Anwendung eines anderen Ansatzes, der als MOE-Ansatz (margin of exposure) bezeichnet wird. Bei dem MOE-Ansatz wird ein Referenzpunkt verwendet, der häufig von einer Tierstudie abgeleitet wird, und einer Dosis entspricht, die eine geringfügige, aber messbare Reaktion beim Tier verursacht. Dieser Referenzpunkt wird dann verglichen mit Schätzungen der Nahrungsaufnahme beim Menschen, wobei unterschiedliche Verzehrmuster berücksichtigt werden. Der MOE-Ansatz kann in Fällen angewandt werden, in denen Substanzen, die sowohl genotoxisch als auch karzinogen sind, unabhängig von ihrer Herkunft in Lebensmitteln gefunden wurden, wo Anleitungen über die möglichen Risiken für diejenigen, die den Substanzen ausgesetzt sind oder waren, nötig sind. Bezüglich der Auswahl von geschätzten Aufnahmemengen für den Menschen empfiehlt der Wissenschaftliche Ausschuss verschiedene Aufnahmeszenarien zu erstellen (z. B. für die Gesamtbevölkerung und für bestimmte Bevölkerungsgruppen). Die Aufnahmeszenarien sollten auf die jeweilige Substanz und deren Verteilung in der Ernährung abgestimmt werden. Der Wissenschaftliche Ausschuss ist darüber hinaus der Ansicht, dass Substanzen mit genotoxischen und kanzerogenen Eigenschaften nicht für den vorsätzlichen Einsatz in Lebensmitteln zugelassen werden sollten, auch nicht für die Verwendung zu einem früheren Zeitpunkt in der Nahrungskette, falls diese in der Nahrung Rückstände mit genotoxischer und kanzerogener Wirkung hinterlassen.