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Sexual Humanitarianism: understanding agency and exploitation in the global sex industry

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Interventionen im Bereich der Sexarbeit führen tendenziell zur Legitimierung zunehmend repressiver, rassifizierter und extremer Formen der Migrationskontrolle

Um Stereotypen durch neue Einblicke in das Leben von Prostituierten mit Migrationshintergrund abzubauen, setzt das Projekt SEXHUM auf ethnografische Originaldaten und Interviews mit 240 Prostituierten mit Migrationshintergrund in Australien, Frankreich, Neuseeland und den Vereinigten Staaten.

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Funktionieren die institutionellen und nichtstaatlichen Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels in Europa wirklich wie beabsichtigt? Nach den Ergebnissen des Projekts SEXHUM zu urteilen, dessen Arbeit vom Europäischen Forschungsrat unterstützt wurde, besteht diesbezüglich durchaus Raum für Zweifel. Seit Oktober 2016 untersucht der Projektkoordinator Nicola Mai den Trend des „sexuellen Humanitarismus“: Ein soziokultureller Prozess, der einige Gruppen und Individuen mit Migrationshintergrund im Hinblick auf ihr Sexualverhalten und ihre sexuelle Identität als gefährdet einstuft. „Bei unserem Projekt steht die Sichtweise der betroffenen Menschen im Vordergrund. Es geht um ethnografische Beobachtung, teilstrukturierte Interviews und gemeinschaftliche ethnografische Filmproduktion“, erklärt Mai.

Von Auckland über Sydney und Paris bis nach New York City

Die Arbeit des Projekts erstreckt sich auf vier Länder und acht Städte in Europa, Australien, Neuseeland und den Vereinigten Staaten. Dabei wird versucht, die wichtigsten globalen Migrationsbereiche, die Milieus der Sexindustrie und die Rahmen für die Politikgestaltung im Zusammenhang mit Prostitution zu reflektieren: Kriminalisierung, Regulierung und Entkriminalisierung. Im Rahmen des Projekts wurden 240 ausführliche, teilstrukturierte Interviews mit 221 Prostituierten und Opfern von Menschenhandel geführt. Diese umfassen die Erfahrungen von Menschen verschiedener Gesellschaftsschichten mit unterschiedlichen Ethnien, Arbeitsbereichen, Geschlechtsidentitäten und Erlebnissen zur Rassifizierung. „Wir haben gezielt darauf geachtet, dass rassifizierte Teilnehmende überproportional vertreten sind, um widerzuspiegeln, wie unverhältnismäßig häufig sie von den Behörden zur Bekämpfung des Menschenhandels sowie von Migrations- und Strafverfolgungsbehörden ins Visier genommen werden“, fügt Mai hinzu. An den vier länderspezifischen Standorten des Projekts wurden rund 80 Interviews mit Interessengruppen, Nichtregierungsorganisationen und Regierungsstellen sowie 45 weitere Befragungen zu den Auswirkungen von COVID-19 auf migrantische Prostituierte durchgeführt. Die Forschungsergebnisse stellen weit verbreitete Stereotypen in Frage. Für die überwiegende Mehrheit der an der Forschung Teilnehmenden stellt Sexarbeit prinzipiell keine Form der sexuellen Ausbeutung, sondern vielmehr einen Weg dar, um die ausbeuterischen Arbeitsbedingungen zu umgehen, denen Migrierende in den ihnen zur Verfügung stehenden „regulären“ Arbeitsplätzen begegnen. Mai zeigt auch auf, wie humanitäre Interventionen repressive, rassifizierte und extreme Formen der Migrationskontrolle legitimieren können. „Da humanitäre Maßnahmen und Interventionen im Bereich der Sexarbeit tendenziell auf rassifizierten Annahmen über die Gefährdung beruhen, entsprechen sie nicht den realen Umständen der direkt Betroffenen und bieten hilfsbedürftigen Personen daher keine angemessene Unterstützung. Darüber hinaus führen Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels und andere humanitäre Interventionen im Bereich der Sexarbeit häufig zur Durchsetzung von Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Migration und Sexarbeit. Dadurch wird die tatsächliche sozioökonomische Gefährdung von Prostituierten mit Migrationshintergrund letztendlich noch verschärft“, merkt er an. Mai verdeutlicht zudem, dass eine stärkere Kriminalisierung von Prostituierten mit Migrationshintergrund leider auch zur Folge hat, dass diese weniger Möglichkeiten haben, Zugang zur Rechtsprechung zu erhalten und ihre Rechte geltend zu machen. So befanden sich Migrierende in den Vereinigten Staaten, wo sowohl der Kauf als auch der Verkauf von Sex unter Strafe gestellt wird, und in Frankreich, wo die Kundschaft als Strategie zur Abschaffung des sogenannten „Prostitutionssystems“ strafrechtlich belangt wird, in prekäreren Situationen und waren anfälliger für Gewalt und Missbrauch. Dazu gehörte auch der Missbrauch durch Verbeamtete der Strafverfolgungsbehörden. Prostituierte in entkriminalisierten Kontexten wie New South Wales in Australien waren hingegen weniger gefährdet. Insgesamt deuten die Ergebnisse von SEXHUM nachdrücklich darauf hin, dass die Aufhebung aller repressiven Gesetze, die sowohl den Verkauf als auch den Kauf sexueller Dienstleistungen kriminalisieren, der am besten geeignete und am wenigsten schädliche Rahmen für die Politikgestaltung im Bereich der Sexarbeit ist. Maßnahmen zur Bekämpfung des Menschenhandels sollten sich von der Durchsetzung von Rechtsvorschriften zur Bekämpfung von Migration und Sexarbeit abgrenzen, wenn die Anfälligkeit für die Ausbeutung der Menschen, die es zu unterstützen gilt, verringert werden soll. Denn politische Maßnahmen und soziale Interventionen können nur dann von Erfolg gekrönt sein, wenn darin der Rechtsanspruch der Migrierenden auf Zugang zu den internationalen und nationalen Arbeitsmärkten heute wie auch in Zukunft berücksichtigt wird. Weitere politische Empfehlungen beinhalten die Einstellung der Finanzierung von Nichtregierungsorganisationen und Institutionen, einschließlich Strafverfolgungsbehörden, die politische Maßnahmen und soziale Interventionen zur Bekämpfung von Sexarbeit und Migration fördern, sowie die Beratung durch Organisationen für die Rechte von Prostituierten und entsprechenden Gemeinschaften im Vorfeld neuer politischer Maßnahmen und Interventionen für Prostituierte. Die kreative und kollaborative Methodik von SEXHUM bezog Prostituierte mit Migrationshintergrund in die Erstellung und Produktion kreativer Dokumentarfilme (Ethnofiktion) ein, die ihre persönlichen Geschichten und Sichtweisen wiedergeben und verbreiten. Diese Filme werden hoffentlich auch die Bürgerinnen und Bürger für dieses Thema sensibilisieren. Einer dieser Filme ist beispielsweise „CAER (CAUGHT)“ – eine 61-minütige Ethnofiktion, die in Zusammenarbeit mit der sozialen Einrichtung Colectivo Intercultural TRANSgrediendo für Latina-Transfrauen in New York City geschrieben, produziert und geschnitten wurde. Es gab aber auch noch einen Plan B – einen Film, der in Zusammenarbeit mit der Vereinigung Roses d’Acier für chinesische Cis-Frauen in Paris produziert wurde.

Schlüsselbegriffe

SEXHUM, Prostituierte, Menschen mit Migrationshintergrund, Migrierende, Menschenhandel, sexuelle Ausbeutung, Prostitution

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