Forschung zu Lernsystemen im alten Mesopotamien
Mesopotamien, das sogenannte Zweistromland zwischen Euphrat und Tigris, liegt im heutigen Irak und gilt als eine der frühesten Wiegen menschlicher Zivilisation. Die dort beheimateten Völker der Sumerer und Akkader hinterließen reiche Schriftzeugnisse auf Tontafeln, die auf ein aufkeimendes Bildungssystem verweisen. Viele dieser Tafeln wurden in der Stadt Nippur gefunden. Auf sie konzentrierte sich das über die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen finanzierte Projekt MESOPOLIT. „In dieser altbabylonischen Frühzeit um 2000 v. Chr. wetteiferten verschiedene zersplitterte Stadtstaaten um die Macht“, erklärt Robert Middeke-Conlin, Marie-Skłodowska-Curie-Stipendiat von MESOPOLIT an der Universität Kopenhagen, Dänemark. „Hier befand sich die aufstrebende Stadt Nippur, die zwar nie von wirtschaftlicher oder politischer Bedeutung war, aber als Zentrum von Religion und Wissen zu Ansehen gelangte.“
Herausbildung eines Schulsystems in Mesopotamien
Durch Analysen mehrerer Tontafeln aus Nippur und anderen Stätten in Mesopotamien wollte Middeke-Conlin mehr über die Lehre des Verwaltungswesens und Handwerks, aber auch des Lesens und Rechnens herausfinden. Bei mehreren Schrifttafeln, die vor den Mauern Nippurs gefunden wurden, konnte er feststellen, dass diese offenbar der Lehre des damals entstehenden Verwaltungswesens dienten. In Nippur belegte er, dass Bildung zunehmend an Bedeutung gewann, deren Vielfalt schließlich das spätere Babylonien repräsentierte. „Dabei stand das Auswendiglernen von Wörtern und Sätzen und schließlich auch ganzer Texte im Vordergrund“, sagt er, „was uns ein Bild davon vermittelt, dass Lesen, Schreiben und Rechnen Voraussetzung im Bürokratiewesen wurden.“ Weiterhin wurde ein Rechensystem entwickelt, das heute noch verwendet wird: das sogenannte Sexagesimalsystem (Stellenwertsystem zur Basis 60), das die Stunde in 60 Minuten und die Minute in 60 Sekunden unterteilt, wie Middeke-Conlin erklärt. Die Entwicklung dieser komplexen Multiplikationsmethode dauerte insgesamt 200 Jahre und hatte prägenden Einfluss auf Wirtschafts- und Verwaltungstexte. Darüber hinaus zeigen die alten Schriften, wie wichtig Lernen und die Weitergabe von Wissen im Vermessungswesen waren. „Solche Art von Expertise benötigte man z. B. für den Kanalbau“, so Middeke-Conlin, „und dies war ein enormer Entwicklungsschub für die Mathematik.“
Genaueres Bild vom Alltag Babyloniens
Erfolg hatte MESOPOLIT vor allem durch seinen interdisziplinären Ansatz, der mit Mathematikgeschichte und Linguistik der sumerischen Sprache zwei Fachbereiche zusammenbrachte, die sonst eher wenig miteinander zu tun haben. Eine umfassendere Interpretation der Schriften enthüllte für Middeke-Conlin den mutmaßlichen Zweck der antiken Tafeln, denn Korrekturen und Diskrepanzen deuten auf deren Verwendung als Schultafeln hin. „Ich konnte belegen, dass einige scheinbar administrative Texte wahrscheinlich Unterrichtszwecken dienten und daher nicht unbedingt die Realität im Verwaltungswesen abbilden“, stellt er fest. Middeke-Conlin entdeckte in dieser Historie auch eine offenbar längere Debatte darüber, wie das „neue“ Sexagesimalsystem eingeführt werden sollte, die Verwaltungsinstanzen in ganz Mesopotamien beschäftigt haben musste. „Dies könnte in kommenden Studien näher erforscht werden“, sagt er. Tatsächlich bestätigt die Einführung des Sexagesimalsystems auch ein allgemeingültiges Phänomen: Jede Zivilisation entwickelt neue Werkzeuge, und diese Werkzeuge verändern wiederum diejenigen, die sie nutzen. „Für die Menschen in Mesopotamien waren dies Zahlen und Abakus“, wie Middeke-Conlin ausführt. „Für uns in der heutigen Zeit ist es das Internet. Man entwickelt sich weiter durch die Werkzeuge, die man herstellt.“
Schlüsselbegriffe
MESOPOLIT, Mesopotamien, Zivilisation, Sumerer, Akkader, Babylonien, Nippur, Sexagesimalsystem