Wahrnehmung von Zeit im mittelalterlichen Japan
Uns kommen die Vorstellung über das Vergehen von Zeit vielleicht logisch vor, doch sie sind hochgradig kulturell geprägt – abhängig vom Kontext und Systemen zur Zeiterfassung und -darstellung. Das Projekt TIMEJ wurde über den Europäischen Forschungsrat finanziert mit dem Ziel, die Wahrnehmung von Zeit im mittelalterlichen Japan zu untersuchen und so aufzudecken, wie sie tatsächlich erfahren und verstanden wurde. „Das Projekt wurde auf der Konferenz der European Association for Japanese Studies als revolutionär bezeichnet. Wir haben ein neues Modell aufgestellt, um zu erklären, wie Zeit als mehr als nur quantitative Messeinheit diente und auch qualitativen Aufgaben erfüllte“, sagt der Hauptforscher Raji Steineck von der Universität Zürich.
Zeit als symbolische Form
Ausgangspunkt bei TIMEJ war die Annahme, dass die Menschen im Japan des Mittelalters Zeit je nach Kontext auf unterschiedliche Arten wahrnahmen. Ernst Cassirer prägte den Begriff „symbolische Form“, mit der dieser Unterschied leichter abzugrenzen ist. Er bezeichnet Bedeutungsbereiche – wie Religion, Kunst, Wissenschaft, Recht oder Technologie– mit jeweils spezifischer Wertorientierung (zum Beispiel Richtung Wahrheit in Wissenschaft oder Gerechtigkeit im Recht). „Zeit ist in jeder symbolischen Form von grundlegender Bedeutung, doch je nach Werten sind unterschiedliche Aspekte besonders wichtig. Die Idee der ‚Dringlichkeit‘ taucht nicht in physikalischen Formeln auf, ist im Recht aber ein wichtiger Aspekt“, ergänzt Steineck.
Einheitliche Zeiterfassung in der mittelalterlichen Gesellschaft Japans
Über TIMEJ wurden drei Bereiche erforscht: die kaiserlichen und Militärgerichte (Politik und Recht), buddhistische Klöster (Religion) und Produktion und Handel (Wirtschaft). Aus historischen Quellen ging hervor, wie Zeit ausgedrückt und beschrieben wurde, welche Handlungsregeln galten und wie Ideen über Zeit geäußert wurden. Zwei Ergebnisse beziehen sich auf die Studien zu Klöstern und deren Verwendung von Kalendern und Uhrzeit, um Aktivitäten zu planen und zu koordinieren. Zum einen wurden durch Kalender und Uhrzeit oft quantitative zeitliche Aspekte mit qualitativer religiöser Bedeutung verbunden. „Zum Beispiel war der 15. Tag des achten Monats im Lunisolarkalender Herbstvollmond, ein bedeutendes Symbol der Aufklärung und Anlass für formelle Verlautbarungen des Abtes“, sagt Steineck. Zum anderen liefen die Klosterpläne mit Einheiten, die etwa 90-120 Minuten entsprechen. So konnte sich die Gemeinde auf Aktivitäten konzentrieren, ohne ständig auf die Zeit zu achten. Durch den internationalen Handel wurden zunehmend Ideen ausgetauscht, sodass die Frage aufkam, wie nicht nur unterschiedliche Zeiterfassungen, sondern auch abweichende Weltanschauungen berücksichtigt werden können: „Das widerspricht in gewisser Weise der Annahme, dass die japanische und westliche Gesellschaft grundsätzlich gegensätzliche Ansichten vertraten“, meint Steineck. Laut Steineck schlugen mehrere Gelehrte damals Methoden koordinierter Zeitlinien vor. Diese Bemühungen wurden durch rechtliche Schritte gestützt, um Chronologien für Verträge festzulegen, zum Beispiel für Landeigentum, wobei auch Produktionstechnologien und Bewirtschaftungsverfahren auf lineare Zeit ausgerichtet wurden. So wurde die Fertigung und der Handel von den Jahreszeiten getrennt betrachtet. Manchmal waren unterschiedliche Zeitkonzepte jedoch auch widersprüchlich. „Ein Beispiel: Ein bekanntes Wirtschaftsprinzip lautete ‚Günstig kaufen und teuer verkaufen‘. Doch wir fanden eine Anweisung eines Zen-Abtes, dass dieser Ansatz nicht auf Klosterspenden angewendet werden sollte“, erklärt Steineck. In einer weiteren Analyse wurden zeitbezogene Konzepte des menschlichen Körpers in Religion, Medizin und Literatur betrachtet. Diese Arbeit ist Teil größerer Forschungen zu mittelalterlichen Gesellschaften, die von der EU unterstützt werden, zum Beispiel Forschung zu Handelswegen von Glasherstellern.
Das Wissen zur Wahrnehmung von Zeit vertiefen
Das Team stellt derzeit eine Aufsatzsammlung fertig, die gemeinsam mit Forschenden aus Japan, Europa und Nordamerika erstellt wurde. Ein Nachfolgeprojekt, „Time and Emotion in Medieval Japanese Literature“ wird über den Schweizerischen Nationalfonds finanziert. Steineck plant eine Monografie zu „Time and Symbolic Form“, in der die Modalitäten der Zeit in verschiedenen symbolischen Formen dargestellt und theoretische Erkenntnisse von TIMEJ zusammengefasst werden.
Schlüsselbegriffe
TIMEJ, Zeit, Uhr, Japan, Mittelalter, Klöster, Kalender, Handel