Die verborgene Geschäftsdynamik auf den Märkten der ehemaligen Sowjetunion aufdecken
Im letzten Jahrzehnt öffneten engere diplomatische Beziehungen sowie Wirtschaftsreformen neue Türen zwischen der EU und den ehemaligen Sowjetrepubliken. Doch die erwartete Welle von Auslandsinvestitionen ist nicht in vollem Umfang eingetreten. Das Projekt MARKETS(öffnet in neuem Fenster) untersuchte das Geschäftsumfeld in Ländern Zentralasiens, des Kaukasus und Osteuropas, um sowohl formelle als auch informelle Faktoren zu beleuchten, die auf ausländische Investitionen in diesen Regionen Einfluss nehmen. „Auslandsinvestitionen folgen überall der gleichen Logik, wie bei einer Kosten-Nutzen-Analyse: wie viel Geld kann erzielt werden und mit welchem Risiko ist dies verbunden. Der Unterschied liegt in den Chancen und Risiken, die eine bestimmte Region im Vergleich zu einer anderen bietet. Daher ist regionales Wissen so wichtig“, sagt Abel Polese, Koordinator des Projekts MARKETS. Das über die Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahme(öffnet in neuem Fenster) unterstützte Projekt ging über die traditionellen Wirtschaftsindikatoren hinaus, um die reale Unternehmensdynamik zu verstehen.
Kartierung informeller Praktiken
Basierend auf Fachwissen aus den Bereichen Wirtschaft, Anthropologie und Governance-Studien hat MARKETS ein vielfältiges Portfolio von Fallstudien erstellt. Von weiblichem Unternehmertum in Kirgisistan über geschlechtsspezifische Fragen im Bereich Basarverkauf in Usbekistan bis hin zur Dynamik der Weinindustrie in Georgien und Moldawien – die Forschenden haben die Komplexität dieser Regionen erfasst. Eine der wichtigsten Errungenschaften des Projekts war der Beitrag zu Band 3 der Global Encyclopaedia of Informality(öffnet in neuem Fenster) („Globale Enzyklopädie der Informalität“), in der informelle Praktiken auf der ganzen Welt dokumentiert und erläutert werden. Zudem koordinierte ein Team von MARKETS die strategische Landkarte des Weltwirtschaftsforums zur Informalität(öffnet in neuem Fenster). Diese Ressourcen verdeutlichen, dass die Informalität oft eine praktische Lösung darstellen kann, wenn die formellen Systeme unzureichend sind. „Informalität ist nicht per se ‚gut‘ oder ‚schlecht‘. Manchmal hilft sie, Dinge in einer festgefahrenen Situation zu bewegen. In anderen Fällen ebnet sie den Weg zur Korruption“, so Abel. Die nuancierte Sichtweise des Projekts hinterfragt vereinfachende moralische Urteile. „Wir wollten nicht die Informalität als spektakulär darstellen oder die Region romantisch verklären, sondern klare Beweise für die Informalität vorlegen. Wir wollten erklären, wie diese Mechanismen funktionieren, und Abhilfemaßnahmen vorschlagen, die nicht zwangsläufig repressiv sind“, fügt er hinzu. Nach Rücksprache mit den Fachleuten des Projekts erweiterte das Strategic Intelligence Team des Weltwirtschaftsforums seine Definition von Informalität über den Bereich der informellen Wirtschaft hinaus, um auch weniger sichtbare und messbare Aspekte in den politischen Rahmen einzubeziehen.
Risiken steuern
MARKETS ermittelte zwei Hauptstrategien, um die Investitionsrisiken in der Region zu verringern. Die erste besteht darin, ein stabiles, berechenbares Umfeld zu schaffen, in dem die Eigentumsrechte geschützt sind. Ein Beispiel dafür ist die erfolgreiche EU-Anpassung der baltischen Republiken. Der zweite Ansatz besteht in der Zusammenarbeit mit einflussreichen Persönlichkeiten vor Ort. „Dies wirft nicht nur ethische Bedenken auf, sondern ist auch sehr riskant. Immerhin hängt die Zusammenarbeit von der Position des Ansprechpartners ab, die sich unvorhersehbar ändern kann, und von seinem anhaltenden Interesse“, kommentiert Abel. Über diese Strategien hinaus setzt sich MARKETS für eine verbesserte Transparenz durch Satellitenkonten in den nationalen Buchführungssystemen ein, um nicht deklarierte Aktivitäten und Steuerhinterziehung besser verfolgen zu können – denn solche Probleme wirken sich sowohl auf die öffentlichen Finanzen als auch auf die Investitionsattraktivität einer Region aus. Die Ergebnisse des Projekts wurden auf der von der UNECE organisierten 24. Sitzung der Sachverständigengruppe für Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen(öffnet in neuem Fenster) vorgestellt. In der Studie wird auch hervorgehoben, wie der Krieg in der Ukraine die regionale Investitionslandschaft veränderte und Zentralasien zu einem Drehkreuz für den internationalen Handel und zu einer Route für die Umgehung der Sanktionen gegen Russland(öffnet in neuem Fenster) machte. Dies motivierte die Unternehmen, nach Alternativen zu suchen oder vor Ort zu produzieren. So verbesserte sich beispielsweise die Käseproduktion in Zentralasien sowohl quantitativ als auch qualitativ, während die Einfuhren von Autoteilen nach Kirgisistan – dem Land mit dem zweitkleinsten BIP in der Region – im Zusammenhang mit den Wiederausfuhr-Routen zur Versorgung des russischen Marktes um 5 500 % gestiegen sind. MARKETS bietet Orientierungshilfen für die EU-Politik, insbesondere im Hinblick auf geschlechtsspezifische Entwicklungsprogramme, Unternehmensentwicklungsdienste sowie ethische Ansätze zur Lösung sanktionsbedingter Herausforderungen. Abel fasst zusammen: „Die Frage lautet: Wollen wir die ethische Geschäftsführung in der Region fördern? Und wenn ja, welche Anreize können wir bieten?“