Feature Stories - Belgien: Land der großen Durchbrüche
So erfand 1907 der belgische Chemiker Leo Baekeland das Bakelit. Diese Entdeckung markiert sozusagen den Beginn des modernen Plastikzeitalters. Drei Jahrzehnte zuvor stolperte Zénobe Gramme, ein erfinderischer Elektroingenieur, zufällig über den ersten ausreichend leistungsstarken Elektromotor, als er feststellte, dass seine Gramme-Maschine, eine Art Gleichstromgenerator, in umgekehrter Richtung lief. Ernest Solvay(öffnet in neuem Fenster) , ein weiterer belgischer Chemiker, entwickelte das Solvay-Verfahren zur Herstellung von Natriumkarbonat - bekannt als Soda. Dieser Stoff wird für viele industrielle Prozesse von der Glasherstellung bis hin zur Wasseraufbereitung verwendet. Und der belgische Visionär, Unternehmer und Friedensaktivist Paul Otlet(öffnet in neuem Fenster) gilt als Begründer der modernen Dokumentationswissenschaft und einer der Väter der Informatik. Und in einem Land, in dem das wissenschaftliche Denken die natürlichste Sache der Welt zu sein scheint, war einer der schlauesten Köpfe der Physiker und Astronom Georges Lemaitre, der an der Katholischen Universität Löwen arbeitete und nichts Geringeres als die Urknalltheorie über die Ursprünge des Universums erdachte. 1968 wurde Lemaitres Universität in die Katholieke Universiteit Leuven (KUL) und die Université Catholique de Louvain geteilt, aber die Forscher beider Universitäten leisten weiterhin auf vielen Gebieten bahnbrechende Arbeit: Astronomie und Physik, Nanotechnologie, drahtlose Kommunikation und Neurowissenschaften zählen zu den Disziplinen von Weltklasse. Die Universitäten haben außerdem mehrere bemerkenswerte Spin-offs gestartet; so auch das IMEC (Interuniversity Microelectronics Centre), das heute das größte Forschungszentrum für Nanoelektronik in Europa ist. Forscher der KUL koordinieren beispielsweise das vor kurzem ins Leben gerufene Enlightenment-Projekt (1), das wesentliche Beiträge zur Verbesserung unseres Wissens über die Funktion des Gehirns leisten soll und so möglicherweise den Grundstein für ein Spektrum neuroinspirierter Technologien legen könnte. Das Team, zu dem auch Forscher aus Kanada, Frankreich und den Niederlanden gehören, baut durch die Kombination von Neurowissenschaften, Neuroengineering und Rechenverfahren eine Technologieplattform zur direkten Interaktion mit Zellverbänden im Gehirn auf. Diese Vordenker wollen mit Hilfe einer Reihe von Verhaltensexperimenten einen Zweiwegedialog zwischen einem Gehirn und einem Computer in Gang bringen, um untersuchen zu können, ob man mit Manipulationen an Zellverbandaktivitäten Erinnerungen löschen oder erzeugen kann. Bessere Schnittstellen zwischen Gehirn und Computer - "Brain-Computer Interfaces" (BCI) und Computern, welche die Aktivität des Gehirns nachahmen, sind nur einige der potenziellen Ergebnisse einer Initiative, die, wie die Forscher es ausdrücken, Konsequenzen haben könnten, "die wir bislang nur erahnen können." Innovative BCI-Technologie bildet auch den Kernpunkt eines weiteren Projekts, das verspricht, Menschen mit Behinderungen der unteren Extremitäten zum Laufen zu bringen. Das Team hinter dem Mindwalker-Projekt(öffnet in neuem Fenster) (2) wird von dem belgischen Unternehmen Space Applications Services NV koordiniert und bezieht neben anderen europäischen Partnern die Universite Libre de Bruxelles (ULB) ein. Man wird innovative trockene Biosensoren und nichtinvasive BCI einsetzen, um ein speziell gestaltetes orthopädisches Hilfsmittel zu steuern, das vorher an den Rollstuhl gebundenen Personen das Gehen ermöglichen soll. Zum Training wird eine virtuell reelle Umgebung zum Einsatz kommen; das System wird letztlich in einer Serie von Versuchen getestet werden, die alltägliche Umgebungen und Situationen wie die Durchführung von einfachen Tätigkeiten zu Hause, einkaufen gehen und Interaktion mit Menschen auf der Straße widerspiegeln. Von der Kryptographie hin zu Kommunikation und Photonik Ein weiteres KUL-Team koordiniert das Ecrypt II-Projekt(öffnet in neuem Fenster) (3), ein auf vier Jahre angelegtes Exzellenznetz (Network of Excellence) zum Thema Kryptologie, in dessen Rahmen elf führende Akteure des Gebiets einen Forschungsfahrplan entwickeln sowie neue kryptographische Verfahren unter Einsatz symmetrischer Key-Algorithmen, Public-Key-Algorithmen und Protokolle sowie Hardware- und Softwareimplementierung in drei virtuellen Laboren erfinden. Dasselbe Kryptologenteam vom KUL steckte hinter einer der weltweit ersten praktischen Umsetzungen der Kryptobiometrie. Das Team demonstrierte bei der Arbeit am TURBINE-Projekt(öffnet in neuem Fenster) (4) einen Lösung auf Grundlage des Konzepts "Privacy by Design", bei dem die Fingerabdrücke von Personen zum Nachweis, um wen es sich handelt, zum Einsatz kommen, wobei jedoch die Informationen zur Identität in Sicherheit bleiben. "Anstatt Scans von Fingerabdrücken zu speichern, nutzen wir die Scans, um einen mathematischen Code zu generieren, der eine Identität vertritt. Man kann den Code nicht verwenden, um den ursprünglichen Fingerabdruck wiederherzustellen, man kann ihn jederzeit widerrufen und mit demselben Fingerabdruck können mehrere Codes erzeugt werden, so dass ein Nutzer für verschiedene Zwecke unterschiedliche Identitäten oder Pseudoidentitäten haben kann", erklärt TURBINE-Koordinator Nicolas Delvaux. Die Forscherkollegen an der Université Catholique de Louvain sind derweil an mehreren wegweisenden Projekten auf verschiedenen Gebieten beteiligt. Zum Beispiel beteiligte sich das Elektrotechniklabor der Universität am Projekt Newcom++(öffnet in neuem Fenster) (5), um eine ganze Reihe neuer Technologien zu entwickeln, die im Bereich der mobilen und drahtlosen Kommunikation weit über den aktuellen Stand der Technik hinausgehen. Im Lauf der kommenden Jahren werden die Resultate von NEWCOM++ eine Schlüsselrolle bei der Bereitstellung kostengünstigerer, schnellerer und sichererer drahtloser Internetzugänge und bei der Erweiterung von Kapazität, Reichweite und Funktionalität mobiler Netzwerke spielen. "Die von uns entwickelten Technologien gehen über die LTE-4G-Standards (Long Term Evolution; Nachfolgegeneration des Mobilfunkstandards 3G) hinaus, die gegenwärtig in der Mobilfunkkommunikation eingesetzt werden. ... Sie sind keine Technologien der nächsten, sondern eher der 'übernächsten' Generation", wie Professor Marco Luise, technischer Manager von Newcom++, erläutert. "Durch die Arbeit daran hoffen wir, Europas Vorsprung auf dem Gebiet der drahtlosen und mobilen Kommunikation erhalten zu können." Außerdem haben wichtige Innovationen in verschiedenen Wissenschaften ihren Ursprung an der Universität Gent und der Vrije Universiteit Brussel (VUB). Beide haben beispielsweise Photonikfachbereiche von Weltklasse, die an einer Reihe von Technologien arbeiten, die mit vielerlei Versprechungen aufwarten: Fernsehbildschirme mit höhererAuflösung, moderne medizinische Bildgebungssysteme und biomedizinische Implantate. Photonik für das Gesundheitswesen ist das Herzstück des Photonics4Life-Projekts(öffnet in neuem Fenster) (6), ein Network of Excellence, zu dem ein VUB-Team gehört, das die gesamteuropäische multidisziplinäre Forschung im Bereich "Biophotonik", einer aufstrebenden Disziplin, die alle in den Biowissenschaften und der Medizin angewandten, auf Licht beruhenden Technologien vereint, in Fahrt bringen soll. Die Arbeit der Forscher führte zu neuen Verfahren zur Analyse von Zellprozessen, zur nicht- und minimalinvasiven Diagnostik und Therapie sowie zur patientennahen Diagnostik (Point-of-Care-Diagnostik). Die VUB wie auch die KUL spielen überdies Schlüsselrollen bei der Entwicklung neuer Halbleitertechnologien. Im Rahmen des Copper-Projekts(öffnet in neuem Fenster) (7) arbeiteten Teams beider Universitäten auf einem bahnbrechenden Konzept zur Halbleiterfertigung unter Einsatz nicht wässriger Lösungsmittel wie etwa flüssiges Ammoniak und ionischer Flüssigkeiten, die erlauben, dass noch mehr Transistoren auf Computerchips gepackt werden können - und damit noch mehr Rechenleistung verfügbar wird. "Elektroplattierung unter Einsatz von flüssigem Ammoniak und ionischen Flüssigkeiten wurde bereits zuvor realisiert, aber wir haben diesen Prozess erstmalig in der Halbleiterindustrie zum Einsatz gebracht", betont Professor Jan Fransaer, Forscher im Fachbereich Metallurgie und Werkstofftechnik (Department of Metallurgy and Materials Engineering, MTM) an der Katholieke Universiteit Leuven. "Dieses Verfahren wird mit Sicherheit dazu beitragen, das Mooresche Gesetz zumindest für ein paar nächste Generationen weiterhin gelten zu lassen." Die neue Technologie ist nun Teil einer langen Reihe wissenschaftlicher Durchbrüche, die durch Forschung in Belgien unterstützt wurden, wo Generationen von Wissenschaftlern weiterhin in den Fußstapfen von Gramme, Lemaitre und Solvay dahinschreiten. Im Jahr 1911 begann eine Reihe von nach ihrem Namengeber Ernest Solvay benannten wichtigen Konferenzen für Physiker und Chemiker, deren Teilnehmer Koryphäen wie Max Planck, Marie Curie und der junge Albert Einstein waren. Auch in unserer Zeit werden die Solvay-Konferenzen noch organisiert und üben - wie Belgien selbst - eine große Anziehungskraft auf die größten wissenschaftlichen Denker der Welt in deren jeweiligen Bereichen aus. --- Die in diesem Artikel vorgestellten Projekte wurden innerhalb des Siebten Rahmenprogramms für Forschung (RP7) unterstützt. (1) Enlightenment: "Exploring the neural coding in behaving animals by novel optogenetic, high-density microrecordings and computational approaches: Towards cognitive Brain-Computer Interfaces" (2) Mindwalker: "Mind controlled orthosis and virtual reality training environment for walk empowering" (3) Ecrypt II: "European network of excellence in cryptology - Phase II" (4) Turbine: "Trusted revocable biometric identities" (5) Newcom++: "Network of Excellence in Wireless Communications" (6) Photonics4Life: "Network of excellence for biophotonics" (7) Copper: "Copper interconnects for advanced performance and reliability" Nützliche Links: - RP7 auf CORDIS(öffnet in neuem Fenster) - Enlightenment auf CORDIS(öffnet in neuem Fenster) - Mindwalker auf CORDIS(öffnet in neuem Fenster) - Ecrypt II auf CORDIS(öffnet in neuem Fenster) - Turbine auf CORDIS(öffnet in neuem Fenster) - Newcom++ auf CORDIS(öffnet in neuem Fenster) - Photonics4Life auf CORDIS(öffnet in neuem Fenster) - Copper auf CORDIS(öffnet in neuem Fenster) Weiterführende Artikel: - Feature Stories - Europas Wettbewerbsvorsprung in der drahtlosen Kommunikation verteidigen - Projekt Newcom++ - Feature Stories - Wegweisender Ansatz zur wasserfreien Mikrochipfertigung - Projekt Copper