Descartes-Preisträger feiert erste Auszeichnung der Sozialwissenschaften
"Bis vor kurzem wäre es sehr unwahrscheinlich gewesen, dass ein renommierter Preis an ein Team vergeben wird, das in den Sozialwissenschaften arbeitet. Das ist eine lange fällige und willkommene Anerkennung der wachsenden Bedeutung dieses Bereichs." So die Reaktion des Koordinators der europäischen Sozialstudie (European Social Survey - ESS), Professor Roger Jowell, am 2. Dezember, nachdem die ESS als erstes sozialwissenschaftliches Projekt mit dem Descartes-Preis für Forschungszusammenarbeit der EU ausgezeichnet worden war. Kurz nach der Preisverleihung bei der britischen Royal Society fragte CORDIS-Nachrichten Professor Jowell von der City University London, warum seiner Meinung nach die Grand Jury des Descartes-Preises das ESS-Projekt für den renommierten Preis ausgesucht hat. "Ich glaube, wir wurden gewählt, weil das Projekt die quantitative Messung gesellschaftlicher Phänomene verbessern will, und zwar basierend auf denselben rigorosen Prinzipien, wie sie allgemein in anderen Wissenschaftsdisziplinen gelten." Angesichts der Komplexität der Interaktionen der Menschen untereinander und mit der Welt ist die Aufgabe, diese Interaktionen vergleichbar und über 27 Ländergrenzen hinweg abzubilden, oft komplizierter als die Untersuchung der Interaktionen in der natürlichen Welt, so glaubt Professor Jowell. Verhaltensgesetze seien unter Menschen tendenziell weniger evident als bei den Phänomenen in den Naturwissenschaften, erklärte er. "Menschen sind auf eine andere Art eigensinnig als die Bewohner der Natur: Sie können an eine Sache glauben, aber etwas ganz anderes tun." Auch wenn es vielleicht niemals gelingen wird, menschliche Einstellungen mit perfekter Genauigkeit zu messen, so hat das ESS doch eine einzigartige wissenschaftliche Methodologie entwickelt und verfeinert, die die akkurate europaweite Kartierung sich verändernder gesellschaftlicher Einstellungen und Ansichten ermöglicht. Die ESS begann als Zusammenarbeit im Rahmen des vorrangigen Themenbereichs "Ausbau des Potenzials an Humanressourcen" des Fünften Rahmenprogramms, erinnert sich Professor Jowell. "Sechs Institutionen aus fünf Mitgliedstaaten reichten bei der Kommission Vorschläge zur Schaffung einer zentralen Datenbank ein, die fortlaufend mit Daten aus Erhebungen gefüllt werden sollte, die gleichzeitig in allen teilnehmenden Ländern durchgeführt wurden. [...] Man hat sofort erkannt, dass dies eine unschätzbare Datenquelle für Forscher aus vielen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, aber auch für Politiker und Beamte, für Denkfabriken, Journalisten und die allgemeine Öffentlichkeit bieten würde." Zur Datensammlung organisieren ein nationaler Koordinator und ein Meinungsforschungsinstitut in jedem teilnehmenden Land (21 EU-Länder plus Norwegen, die Schweiz, die Ukraine, Island, die Türkei und Israel) persönliche Befragungen von mindestens 1.500 zufällig ausgewählten Bürgern im Alter ab 15 Jahren. Der vom ESS-Team entwickelte Fragebogen umfasst Kernindikatoren, die Bereiche wie Vertrauen in Institutionen, ethische und gesellschaftliche Werte, religiöse Identität, Wohlfahrt und Sicherheit und subjektiv wahrgenommene Lebensqualität ansprechen. Darüber hinaus gibt es Fragen zu bestimmten aktuellen Themen, die für jede Befragungsrunde neu entwickelt werden, zum Beispiel Einstellungen zu Immigration und Staatsbürgerschaft oder Gleichgewicht von Arbeit und Familie. "Dadurch können wir uns Fragen betrachten wie zum Beispiel, ob das europäische Sozialmodell und Wohlfahrtssystem die Menschen davon abhält, sich um einander zu kümmern. Solche Hypothesen können dann anhand verlässlicher Daten geprüft werden", erklärte Professor Jowell. Das wiederum kann der Politik eine Grundlage bieten, wie sie die europäische Regierungspraxis reaktiver gestalten kann. "Wir verwenden zahlreiche wirtschaftliche Indikatoren, um die Leistungsfähigkeit eines Landes zu messen, aber derzeit gibt es sehr wenige soziale Indikatoren. Demokratische Gesellschaften müssen diese Einstellungen kennen und ihnen Rechnung tragen, um die Sensibilität und die Reaktionsfähigkeit europäischer Regierungen zu verbessern." Ein Hinweis, so Professor Jowell, wie wertvoll die ESS-Daten sind, sei die Tatsache, dass seit die Ergebnisse der zweiten Fragebogenrunde im September 2003 öffentlich zugänglich gemacht wurden, mehr als 7.000 registrierte Besucher auf der Website die Daten oder die Erhebungsdokumentation für weitere statistische Analysen und für Veröffentlichungen genutzt haben. "Für solche fundierten Daten besteht eine enorme Nachfrage", bestätigt er. Das ESS-Konsortium hat unter dem Sechsten Rahmenprogramm weitere EU-Mittel akquiriert. Darüber hinaus ist die ESS das erste sozialwissenschaftliche Projekt, das von der Kommission als eigene Infrastruktur anerkannt wurde. In Bezug auf die Zukunft betont Professor Jowell, dass die Sammlung weiterer Daten nur eine Seite der Gleichung sei. "Wir müssen auch bessere komparative Messgrößen entwickeln und die Methoden verfeinern. Es gibt noch viel zu tun, und es liegt noch ein langer und schwieriger Weg vor uns." "Und wird das Descartes-Preisgeld von 200.000 Euro diese Bemühungen etwas erleichtern?", fragte CORDIS-Nachrichten. "Eine Möglichkeit, das Preisgeld zu nutzen, ist die Einrichtung eines einjährigen Descartes-Preis-Stipendiums in jeder an der ESS teilnehmenden Institution", eröffnete Professor Jowell. "Aber was immer wir auch tun werden, wir werden sicherstellen, dass dieser Preis greifbare Ergebnisse zeitigt."
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Vereinigtes Königreich