Geschlechtsangleichende Hormonbehandlung und das Immunsystem
Es identifizieren sich nicht nur immer mehr Jugendliche als Transgender-Person oder gendervariant, sondern viele unterziehen sich auch einer geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung. Auch wenn dieses Verfahren immer häufiger angewandt wird, wissen wir noch sehr wenig über seine Auswirkungen auf das Immunsystem von Transgender-Personen. „Epidemiologische Daten über Transgender-Personen und immunologische Ergebnisse fehlen völlig, und es gibt nur wenige laufende Langzeitforschungen mit immunologischem Schwerpunkt auf Transgender-Personen“, sagt Petter Brodin, Arzt am Karolinska-Institut, einer führenden medizinischen Universität in Schweden. Mit Unterstützung des EU-finanzierten Projekts SHIFT war Brodin federführend beim Versuch, diese Wissenslücke zu schließen. Im Rahmen des Projekts sollte der Frage nachgegangen werden, warum deutliche Geschlechtsunterschiede bei der Prävalenz und dem Auftreten von immunvermittelten Erkrankungen auftreten. „Unser Hauptziel war es, auf Systemebene Längsschnittanalysen der Zusammensetzung, des Phänotyps und der Reaktion der Immunzellen sowie der Plasmaproteinspiegel durchzuführen und etwaige testosteronbedingte Veränderungen mit den bekannten unterschiedlichen Immunreaktionen bei Männern und Frauen in Verbindung zu bringen“, erklärt Brodin.
Zwischen biologischem und sozialem Geschlecht unterscheiden
Eine anfängliche und unerwartete Herausforderung für die Projektbeteiligten lag in der verwirrenden Terminologie, die in der Forschung Anwendung findet. Konkret musste zwischen dem genetischen Zustand, männlich (XY) oder weiblich (XX) zu sein, und dem sozialen Geschlecht unterschieden werden, das sich auf die Art und Weise bezieht, wie sich eine Person als Mann, Frau oder divers identifiziert, unabhängig vom biologischen Geschlecht. Nach Angaben von Brodin werden die beiden Begriffe häufig synonym verwendet. „Wir haben uns schließlich auf eine Definition geeinigt, die schwer zu missverstehen ist: Unsere Studienbeteiligten wurden als XX-Personen bezeichnet, die sich einer geschlechtsangleichenden Testosteronbehandlung unterzogen“, kommentiert Brodin.
Auswirkungen von exogenem Testosteron auf die Immunfunktion
Eine weitere Herausforderung für die Forschenden bestand darin, dass immunologische Geschlechtsunterschiede auf eine Kombination genetischer, hormoneller und verhaltensbedingter Faktoren zurückzuführen sind. Dadurch ist es äußerst kompliziert, die einzelnen Beiträge gesondert voneinander zu betrachten. Daher wurden in das Projekt chromosomale XX-Erwachsene aufgenommen, die sich einer geschlechtsangleichenden Testosteronbehandlung unterzogen. „So konnten wir gezielt die Auswirkungen von exogenem Testosteron auf die Immunfunktion bei Personen analysieren, die zuvor keinen Testosteronspiegel im normalen männlichen Referenzbereich aufwiesen“, fügt Brodin hinzu.
Einfluss auf die körperliche Reaktion auf Infektionserreger
Nachdem diese Herausforderungen gemeistert waren, konnte das Projektteam einige wichtige Ergebnisse vorweisen, darunter den Nachweis, dass eine Testosteronbehandlung die Reaktion des Körpers auf Virusinfektionen verschiedentlich beeinflussen kann. „Insgesamt kann unsere Arbeit dazu beitragen, die unterschiedlichen Reaktionen von Männern und Frauen auf Infektionserreger, Impfstoffe und Selbstantigene zu erklären – einschließlich der Frage, warum bei Männern nach einer Infektion mit COVID-19 ein erhöhtes Risiko für eine schwere Erkrankung auftritt“, so Brodin.
Gesundheitsversorgung für alle verbessern
Das Projekt SHIFT, das mit Unterstützung der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen durchgeführt wurde, zeichnet sich dadurch aus, dass es eines der ersten ist, in dem die immunologischen Auswirkungen einer geschlechtsangleichenden Hormonbehandlung beleuchtet werden. „Unsere Ergebnisse bergen zwar das Potenzial, die künftige Gesundheitsversorgung einer relativ kleinen Minderheit zu verbessern, sie sind aber auch für die allgemeine Bevölkerung von Bedeutung, da sie den Weg zu einer stärker individualisierten Gesundheitsversorgung ebnen“, schließt Brodin.
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