Wie Korrespondenz künstlerische Gemeinschaften kreiert
Giambattista Martini (1706-1784) war eine der bedeutendsten und facettenreichsten Persönlichkeiten der europäischen Musik des 18. Jahrhunderts. Der Franziskanermönch aus Bologna war Theoretiker, Historiker, Komponist, Sammler und international anerkannter Musiklehrer. „Martini baute ein europäisches musikalisches Netzwerk auf, in dem sich die dynamische Verflechtung des kulturellen, künstlerischen und intellektuellen Lebens im 18. Jahrhundert widerspiegelt“, erklärt Riccardo Castagnetti, Marie-Skłodowska-Curie-Global-Stipendiat des Projekts MARTINET(öffnet in neuem Fenster), von der Universität Modena und Reggio Emilia(öffnet in neuem Fenster) in Italien. „Ich wollte tiefere Einblicke nicht nur in Martinis Einfluss, sondern auch in das breitere Ökosystem der europäischen Musik des 18. Jahrhunderts erhalten, auch über Fragen der Ausbildung, der Verbreitung des Repertoires und der gesellschaftlichen Rolle von Musik.“
Historische, philologische und digitale Instrumente
Zu diesem Zweck führte Castagnetti umfangreiche Archivrecherchen in Martinis Briefen und Korrespondenz in öffentlichen und privaten Sammlungen in Europa und den Vereinigten Staaten durch. Mit Unterstützung der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen(öffnet in neuem Fenster) konnte er einen Aufenthalt an der Harvard University(öffnet in neuem Fenster) absolvieren. „Ich hatte das Glück, mit zwei außergewöhnlichen Betreuenden zusammenzuarbeiten, deren Anleitung für die Entwicklung meiner Methodik von unschätzbarem Wert war“, berichtet er. „Ich habe historische, philologische und digitale Instrumente eingesetzt, um Autorschaft, Chronologie und Herkunft zu ermitteln und den Inhalt verschiedener Briefe zu interpretieren. Dadurch konnte ich verschiedene Arten von Korrespondenz und die damit verbundene soziale Dynamik klassifizieren.“ Einer der innovativsten Aspekte des Projekts war die Anwendung der sozialen Netzwerkanalyse zur Modellierung von Martinis brieflichem Netzwerk. „Die soziale Netzwerkanalyse ist ein mathematisches und wissenschaftliches Instrument, das häufig bei der Untersuchung großer Netzwerke wie etwa der Interaktionen in sozialen Medien zum Einsatz kommt“, erklärt Castagnetti. „Meine Idee bestand darin, dieses Instrument zur Analyse von Mustern in Korrespondenznetzwerken aus dem 18. Jahrhundert einzusetzen.“ Dank sozialer Netzwerkanalyse war es möglich, Interaktionsmuster aufzudecken, zentrale Figuren innerhalb des Netzwerks zu ermitteln und thematische Cluster im Zusammenhang mit Themen wie Musikpädagogik, Aufführungspraxis und kultureller Identität zu erkennen.
Durch kirchliche und weltliche Machtstrukturen navigieren
Castagnetti konnte zeigen, dass die Briefe Martinis keineswegs nur ein passives Archiv darstellten, sondern als Instrumente zur Prägung des Rufs, zur Betreuung von Lernenden, zur Pflege des öffentlichen Images und zur Navigation durch sowohl kirchliche als auch weltliche Machtstrukturen dienten. Im Rahmen des Projekts wurden außerdem Briefe von bisher unbekannten Korrespondierenden identifiziert, wodurch unser Verständnis von Martinis Reichweite verbessert wurde. Eine weitere wichtige Errungenschaft war die Entwicklung eines durchsuchbaren, kommentierten digitalen Index, der diese Beziehungen und Themen abbildet. Auf diese Weise können die Gelehrten die Daten abfragen sowie Zusammenhänge auf neue und sinnvolle Weise erkunden. „Die Korrespondenz zeigt, wie die Musik nicht nur als Kunstform, sondern auch als soziale Praxis funktionierte“, fügt Castagnetti hinzu. „Die Ergebnisse unterstreichen auch die Rolle der Kommunikationstechnologien, insbesondere des Briefes, bei der Bildung intellektueller und künstlerischer Gemeinschaften, ähnlich wie es heute mit den digitalen Netzwerken der Fall ist.“
Fachwissen über digitale Geisteswissenschaften und Netzwerkanalyse
Castagnetti vertritt die Ansicht, dass im Verlauf des Projekts sein methodologisches Fachwissen, insbesondere in den digitalen Geisteswissenschaften und der Netzwerkanalyse, erheblich erweitert wurde. „Auf persönlicher Ebene hat die Forschung mein Verständnis dafür vertieft, wie Personen aus Musik und Wissenschaft ihre Karrieren gestalteten – eine Erkenntnis, die stark mit dem heutigen akademischen Leben übereinstimmt“, merkt er an. Castagnetti hofft, dass diese Arbeit als eine Grundlage für zukünftige Forschende in den Bereichen Musikwissenschaft, Kulturgeschichte und digitale Geisteswissenschaften dienen wird. Die Tatsache, dass Martinis Korrespondenz nun auf neue Weise zugänglich, durchsuchbar und analysierbar ist, kann als Modell für ähnliche Projekte zu anderen historischen Persönlichkeiten dienen. „Letztendlich hoffe ich, zu einem breiteren Überdenken der Art und Weise beigetragen zu haben, wie Briefe die soziale Infrastruktur von Wissen und Kreativität im frühneuzeitlichen Europa ins Licht rücken“, schließt er.