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Transnationalism and Unofficial Law: The Case of Kurds in Turkey and Germany

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Studie zu nicht-staatlichen Justizsystemen in Europa

Der demografische Wandel in der Europäischen Union hat die Frage der nicht-staatlichen Justizsysteme ins Licht gerückt. Ein Forschungsprojekt hat analysiert, wie diese Systeme sich in die europäische Gesellschaft einfügen.

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Durch Migration und den demografischen Wandel kamen neue parallele Rechtssysteme in die europäische Gesellschaft. Das EU-finanzierte Projekt TRANSNATIONALaw wollte ihre konkrete Anwendung untersuchen. Der Schwerpunkt lag dabei auf den nicht-europäischen, nicht-islamischen Ursprüngen alternativer kurdischer Rechtspraktiken. Als Fallstudien zog das Projekt die Städte Berlin in Deutschland und Diyarbakir in der Türkei heran. TRANSNATIONALaw untersuchte die transnationalen Verbindungen und Verflechtungen zwischen diesen beiden nicht-staatlichen Mechanismen der Streitbeilegung. Die Forschenden interessierte insbesondere, wann, wo und wie sich Menschen in den beiden ethnografischen Kontexten an nicht-staatliche Gerichte wenden. Sie befassten sich außerdem auch mit den geschlechtsspezifischen Auswirkungen dieser Gerichte. „Die Frage, wie die kurdischen nicht-amtlichen Richtenden ihre Entscheidungen treffen und diese Entscheidungen sich auf Frauen auswirken, ob positiv oder negativ, war ein zentraler Bestandteil dieser Forschungsarbeit“, erklärt Latif Tas, Stipendiat des Marie Skłodowska-Curie-Programms an der School of Oriental and African Studies (SOAS), Universität London. Im Rahmen seiner Forschung besuchte Tas allgemeine sowie speziell auf Frauen konzentrierte Gerichte in mehreren kurdischen Städten in der Türkei und Europa, wo er Hunderten informellen Gerichtsanhörungen direkt beiwohnen und zahlreiche Befragungen durchführen konnte.

Nicht-staatliche Rechtssysteme

Tals Forschung ergab, dass mehr als die Hälfte der vorgebrachten Fälle in diesen Städten außerhalb der staatlichen Gerichte und ohne Kenntnis des Staates beigelegt werden. In der Türkei und ebenso in Deutschland müsse die Gemeinschaft alle Aktivitäten in Bezug auf die informellen Gerichte verbergen, so Tas. Sie behandeln fast alle Konflikte im Geheimen und führen die Strafen ohne Inkenntnissetzung des Staates oder sogar ohne jegliche Verbindung zum Staat aus. In manchen Fällen ist das durch Konflikte zwischen den jeweiligen Gemeinden und dem Staat bedingt. In der Türkei herrscht beispielsweise eine zunehmende Spaltung zwischen der kurdischen Gesellschaft und dem Staat, was wiederum zur stärkeren Nutzung von nicht-staatlichen Gerichtssystemen führt. „Aus meiner eigenen Forschung, wie auch aus dem kürzlich veröffentlichten Türkei-Bericht 2020 der Europäischen Kommission, geht hervor, dass das fehlerbehaftete und stark politisch beeinflusste türkische Rechtssystem und grassierende Korruption mitsamt ihrer wirtschaftlichen und rechtlichen Implikationen zu einem Misstrauen gegenüber den staatlichen Einrichtungen geführt haben“, so Tas, der als Projektkoordinator für TRANSNATIONALaw verantwortlich war. Manche entscheiden sich auch aufgrund der Kosten oder Komplikationen, die mit offiziellen Gerichten verbunden sind, lieber für nicht-staatliche Systeme. „Wenn Anwälte für das Aufsetzen eines einfachen Testaments schon über 1 000 EUR verlangen oder ein einfacher Fall vor einem staatlichen Gericht jahrelang verhandelt wird und bis dahin Unmengen von Geld verschlingt, sehen sich die Leute nach anderen Lösungen um, die sie dann oft auch wahrnehmen“, fügt Tas hinzu.

Geschlechterverhältnisse

Das TRANSNATIONALaw-Projekt zeigte, dass zahlreiche Praktiken weitgehend säkular sein können und dass Geschlechterverteilung und Gleichstellung oft im Vordergrund stehen. Das war zum Beispiel bei den zahlreichen staatenlosen Kurden in der Türkei der Fall. Entsprechend der kurdischen Praxis der demokratischen Autonomie findet zur Besetzung jeder Position eine Wahl statt, bei der jeweils ein Mann und eine Frau den gemeinsamen Vorsitz haben. Innerhalb dieser Struktur wird außerdem auch ein autonomes, alternatives Rechtssystem für Frauen geschaffen. „Diese eigenständigen Ebenen und Organisationsformen sind miteinander verknüpft und pyramidenartig miteinander verflochten“, erklärt Tas.

Die nächsten Schritte

Das Projekt hat weitere neue Fragen aufgeworfen und bestätigt, dass hier durchaus weiterer Forschungsbedarf besteht. „Die Beziehungen zwischen den verschiedenen informellen Aktivitäten, einschließlich wirtschaftlicher Natur, und den informellen Gerichten müssen noch untersucht werden“, so Tas abschließend.

Schlüsselbegriffe

TRANSNATIONALaw, Recht, Justiz, Rechtssystem, nicht-staatlich, Kurden, kurdisch, Frauen, Geschlecht, demokratisch