Mittäterschaft und Zeugnisse des Totalitarismus in der Gegenwartsliteratur
Im rechtlichen Rahmen beschreibt Mittäterschaft die Art, auf die eine Straftat durchgeführt wird, insbesondere durch Beihilfe oder Anstiftung eines Verbrechens. „In der Populärliteratur ist Mittäterschaft ein faszinierendes Thema. Gleichzeitig ist sie eine bedeutende Herausforderung für den demokratischen Grundsatz der Teilnahme und der Rolle des Einzelnen als verantwortlichem Akteur in politischen, wirtschaftlichen und ethischen Gemeinschaften“, merkt Juliane Prade-Weiss an, Stipendiatin der Marie-Skłodowska-Curie-Maßnahmen (MSCA). Mit Unterstützung der MSCA untersuchte das EU-finanzierte Projekt COMPLIT die Rolle der Sprache in Strukturen der Mittäterschaft in humanitären, politischen, ökologischen, moralischen und anderen Verbrechen, welche die Natur der demokratischen Teilnahme in Frage stellen. „Dieses interdisziplinäre Projekt verknüpft neueste Forschung der Rechts- und Sozialwissenschaften mit Zeugnissen des Totalitarismus in deutschsprachiger Gegenwartsliteratur von Herta Müller, der späten Aglaja Veteranyi und Elfriede Jelinek. Das Gesamtziel war ein interdisziplinärer Wissenstransfer, der zu einem tieferen Verständnis davon beiträgt, wie Mittäterschaft entsteht“, erklärt Prade-Weiss.
Bestimmung der Formen von Mittäterschaft bei Gewalt
COMPLIT untersuchte die Rolle von Sprache in Strukturen der Beteiligung und Mitwirkung. Das Projekt bezieht sich auf die Rechts- und Sozialwissenschaften und hebt Mittäterschaft als drängendes Anliegen in gegenwärtigen deutschsprachigen literarischen Zeugnissen des Totalitarismus hervor, die bisher meist in Bezug auf Diskurse über Erinnerungskultur, Trauma und (transnationale) Identität interpretiert wurden. „Die Anliegen dieser Texte sind noch immer aktuell, da sie Formen der Teilnahme an institutioneller Gewalt darstellen, die auf Erbe, Kultur, Geschlecht sowie sozialen und weiteren Unterschieden beruht. Die Formen der Mittäterschaft stechen in vergangenen Diktaturen deutlicher heraus – und werden bereitwilliger anerkannt“, betont Prade-Weiss. Und obwohl diese Formen in einer globalisierten Welt komplizierter sind, sind sie noch immer gültig. Bezüglich der zentralen Erkenntnisse des Projekts berichtet Prade-Weiss: „Es bietet Einblicke in die Logik der ‚mimetischen Teilhabe‘, also der Teilhabe der Kritik durch die Kritisierten.“ Die Ergebnisse werden 2022 in zwei editierten Ausgaben veröffentlicht: „Complicities, Re-presented: Literary Portrayals in Totalitarianism and Neoliberalism“ („Mittäterschaft re-präsentiert: Literarische Portraits im Totalitarimus und Neoliberalismus“) und „Complicity in Commemoration: The Traumatic Enfilade in Maria Stepanova.“ („Mittäterschaft im Gedenken: Die traumatische Enfilade in Maria Stepanowa.“) Das Projekt veröffentlichte außerdem vorläufige Ergebnisse in einem begutachteten Artikel: „Guilt-tripping the ‚Implicated Subject‘: Widening Rothberg’s Concept of Implication in Reading Müller’s The Hunger Angel“ („Schuldgefühle im ‚implizierten Betroffenen‘ hervorrufen: Erweiterung des Konzepts der Implikation von Rothberg in Müllers Atemschaukel“).
Auf COMPLIT aufbauen
Nach seiner Beendigung wurde das COMPLIT-Projekt in ein größeres interdisziplinäres Kollaborationsprojekt integriert, Discourses of Mass Violence in Comparative Perspective (Diskurse der Massengewalt aus vergleichender Perspektive). Diese Vereinigung wird die langfristigen Auswirkungen auf die Geistes- und Sozialwissenschaften sowie auf den öffentlichen Diskurs bei der Diskussion der Denkmalisierung, Erinnerungspolitik und der politischen Instrumentalisierung nationaler Erinnerung sicherstellen. „Meine Erkenntnisse über Mittäterschaft und mimetische Teilhabe wurden in dieses Projekt eingebracht, welches die Übertragung von Diskursen, die Massengewalt rechtfertigen, aus einer vergleichenden Langzeitperspektive betrachtet. Massengewalt wird durch Gruppen ausgeübt und umfasst Tötungen und andere Formen der Gewalt, die auf die Vernichtung großer Gruppen von Nichtkombattanten abzielen, wie Vertreibung, erzwungener Hunger, Zwangsarbeit, kollektive Vergewaltigung und strategische Bombenanschläge“, beschreibt Prade-Weiss. Massengewalt führt zu sozioökonomischen und politischen Realitäten mit überlebenden Opfern, Tätern, Komplizen und deren Nachfahren. „Diese Gewalt stellt den linguistischen und heuristischen Rahmen für ihre nachfolgende rechtliche, moralische und wissenschaftliche Bewertung, sodass sie nicht unbedingt vergangen ist sondern andauert und zum Erhalt sozialer Konfliktlinien beiträgt“, meint Prade-Weiss abschließend.
Schlüsselbegriffe
COMPLIT, Komplexität, Sprache, volle Teilhabe, Demokratie, deutschsprachige literarische Zeugnisse, Totalitarismus, Literatur, Gewalt, Erinnerung, Mittäterschaft, Beteiligung