Herstellung menschlicher Muskeln aus Stammzellen: eine neue Ära der regenerativen Medizin
Muskeldystrophien sind eine Gruppe genetisch bedingter Krankheiten, die das Muskelgewebe nach und nach schwächen und die Betroffenen stark beeinträchtigen. Sie beginnen oft in der Kindheit und sind unheilbar. Aufgrund der wiederholten Krankenhausaufenthalte und der häuslichen Pflege stellen sie eine sozioökonomische Belastung dar. Für die Entwicklung neuartiger Therapien ist es entscheidend, ausgefeilte, zuverlässige In-vitro-Modelle zu entwickeln, die das menschliche Gewebe und die betreffende Krankheit getreu nachbilden. Herkömmliche 2D-Zellkulturen sind nicht in der Lage, die Komplexität und die mechanischen Kräfte eines echten Muskels nachzubilden, während Tiermodelle oft keine ausreichende Vorhersagegenauigkeit für menschliche Krankheiten bieten.
Muskelorganoide aus menschlichen Stammzellen
Das vom Europäischen Forschungsrat (ERC) finanzierte Projekt HISTOID zielte darauf ab, Pionierarbeit bei der Entwicklung menschlicher 3D-Muskeln mit Nerven- und Blutgefäßkomponenten zu leisten. Diese sollten Muskelstörungen akkurat modellieren können. Zudem war es wichtig, die dynamische Kontraktion und die mechanischen Belastungen des lebenden Muskels nachzubilden. „Wir mussten eine der größten Herausforderungen bei der Modellierung von Muskeln bewältigen, und zwar kontraktiles Gewebe in der Kultur zu erhalten, ohne dass sich die Zellen ablösen“, erklärt der Hauptforscher Francesco Saverio Tedesco(öffnet in neuem Fenster). Das Team schuf eine 3D-Umgebung mit Muskelfasern, die aus induzierten pluripotenten Stammzellen(öffnet in neuem Fenster) (iPS-Zellen) stammen. Diese wurden im Labor aus somatischen Zellen in einen embryonalähnlichen Zustand umprogrammiert. Durch die Kombination von biokompatiblen Materialien wie Fibrin mit bis zu vier Zelltypen (Muskelfasern, Endothelzellen, Perizyten und Motoneuronen), die von ein und demselben Patienten und allesamt aus iPS-Zellen stammen, gelang es den Forschenden, künstliche Muskeln herzustellen. Diese biotechnologisch hergestellten Muskeln(öffnet in neuem Fenster) ähneln nicht nur morphologisch und funktionell dem reifen Muskel, sondern weisen auch satellitenzellenähnliche Muskel-Stammzellen auf. Diese Innovation ermöglichte es den Kulturen, über das mit Standardsystemen Machbare hinauszugehen. Gleichzeitig erfasste es die Architektur des Gewebes und ermöglichte die genaue Erkennung krankheitsspezifischer Merkmale, wie etwa missgebildete Zellkerne, die bei bestimmten Muskeldystrophien auftreten.
Fortschrittliche Modellierung von Krankheiten
Die HISTOID-Plattform bietet eindeutige Vorteile gegenüber früheren Modellen, denn sowohl die Struktur als auch die Funktion der 3D-Muskelorganoide bleiben lange genug erhalten, um Merkmale von Muskelerkrankungen beobachten zu können. Somit bietet sie ein leistungsfähiges Instrument für die Erprobung aktueller und neuartiger Therapeutika wie Gentherapie, Gen-Editierung und Stammzellentransplantations-Strategien für Muskelerkrankungen. Tedesco betont: „Neuartige Therapien wie Gen- und Zelltherapien haben beim Menschen eine andere Wirksamkeit gezeigt als bei Mäusen oder anderen Tieren. Daher konzentrieren wir uns auf den Aufbau eines zuverlässigen Modells, mit dem künftige Therapien direkt an menschlichem Gewebe getestet werden können.“
Weg frei für klinische Anwendungen
HISTOID hat ein bahnbrechendes Instrument entwickelt – ein kontraktiles menschliches 3D-Muskelorganoid, das krankheitsspezifische Merkmale erfasst und adäquat auf moderne Biotherapeutika anspricht. Dieses Modell besitzt das Potenzial, eine Brücke zwischen Laborforschung und klinischer Anwendung zu schlagen und eine genauere, auf den Menschen ausgerichtete Plattform für die Validierung gen- und zellbasierter Behandlungen zu bieten. Aufbauend auf dem Erfolg von HISTOID haben sich die Forschenden mit Labors und anderen Gruppen in ganz Europa – und darüber hinaus im Rahmen des von Horizont-Europa-UKRI-SBFI finanzierten Konsortiums MAGIC(öffnet in neuem Fenster) – zusammengeschlossen. Das Projekt zielt darauf ab, die Technologie zu skalieren und sie für die Entwicklung und das Screening von neuromuskulären Gentherapien der nächsten Generation für verschiedene unheilbare Muskelkrankheiten des Kindesalters einzusetzen. „Unser Ziel ist es, den präklinischen Zyklus drastisch zu verkürzen, indem wir Therapien bereits vor den klinischen Versuchen in menschlichen Muskelorganoiden testen. Dies sollte im Idealfall die Behandlung von Betroffenen mit derzeit unheilbaren Muskelkrankheiten beschleunigen“, so Tedesco abschließend.