Wie eine sich verändernde moralische Kultur die Rettungsbootbewegung in Gang setzte
Vor der Entstehung der freiwilligen Rettungsbootbewegungen in den 1820er Jahren waren die Verantwortlichkeiten gegenüber den in Seenot geratenen Menschen uneinheitlich und ad hoc. Laut Henning Trüper vom Leibniz-Zentrum für Literatur- und Kulturforschung(öffnet in neuem Fenster) legen historische Darstellungen nahe, dass keine starke moralische Verpflichtung bestand, das Leben für eine Rettung der in Gefahr geratenen Menschen zu riskieren. In der Regel war die Küstenbevölkerung tatsächlich Rettungsaktionen gegenüber abgeneigt, was teilweise auf das wirtschaftliche Interesse bei der Bergung von Schiffswracks zurückzuführen war. „Rettungsaktionen waren eher opportunistisch – Lebensrettungen erfolgten, wenn sie ein relativ geringes Risiko bargen oder auf spontanen Entscheidungen beruhten“, sagt Trüper, Koordinator des Projekts AISLES, das ins Leben gerufen wurde, um zu verstehen, wie sich die moralischen Vorstellungen im Sinne von Werten und Normen im Laufe der Zeit veränderten. Das Vorhaben AISLES wurde vom Europäischen Forschungsrat(öffnet in neuem Fenster) finanziert. Dabei galt das Interesse hauptsächlich der Frage, wie die Rettung von Menschenleben auf See durch den weiter gefassten Begriff der Humanität beeinflusst wurde und diesen beeinflusste.
Navigation auf den moralischen Pfaden der Rettungsbootbewegung
Die europäische Bewegung der freiwilligen Rettungsboote entstand in den Niederlanden und im Vereinigten Königreich. Bis 1824 gab es in beiden Ländern rund 50 Jahre lang freiwillige, oft nicht nachhaltige, Rettungsbootbewegungen auf lokaler Ebene, bevor sie schließlich verstaatlicht wurden. Trüper geht davon aus, dass beide Länder ihre Modelle wahrscheinlich unabhängig voneinander entwickelten – entgegen der vorherrschenden Meinung, dass die Niederlande dem britischen Modell folgte. Das Forschungsteam des Projekts stützte sich auf Archivmaterial, um Texte (z. B. Rettungsberichte), Artefakte (z. B. Medaillen) und vor allem Bilder (z B. Fotografien) durch die Brille der Geschichte, der Literaturwissenschaft, der Kunstgeschichte, der Sozialwissenschaften und der Kulturanthropologie zu interpretieren. Das Team stellte fest, dass die Rettungsbootbewegungen zu Beginn ihrer Mittelbeschaffungsaktivitäten ein Narrativ über ihre eigene Geschichte entwickelten, in dem regelmäßiges freiwilliges philanthropisches Engagement als ein ziemlich plötzliches Ereignis dargestellt wurde. Wie Trüper es ausdrückt: „Der Plan bestand darin, dass Innovationen wie Mörser und denkwürdige Katastrophen die Rettung von Menschenleben zu einer moralischen Verpflichtung erhoben und zur Gründung von freiwilligen Rettungsbootbewegungen führten. Eigentlich geschah der Wandel schleichend.“ Im Rahmen von AISLES wurde herausgefunden, dass der entscheidende Wandel von einer breiteren „moralischen Kultur“ geleitet wurde, die mit dem Aufstieg der humanitären Bewegung als einer Sammlung sozialer Bewegungen verbunden ist – wenn auch mit unterschiedlichen Standards für verschiedene „Themen“. „In anderen Notsituationen war der moralische Imperativ der Rettungsbootbewegung weniger stark ausgeprägt. Bei der Brandbekämpfung galt es beispielsweise als unvermeidlich, zum Wohle der Gemeinschaft das Leben zu riskieren, im Gegensatz zur Rettung völlig Fremder“, erklärt Trüper. „Es lässt sich also eine Art von selektiver Moral in der wachsenden Kultur der Humanität erkennen.“ Obwohl sich das Projekt auf Nord- und Westeuropa konzentrierte, wurde ein weiteres aufschlussreiches Ergebnis erzielt: die Art und Weise, wie das Vorhandensein bzw. das Fehlen von Rettungseinrichtungen als imperialistisches Instrument eingesetzt wurde, um die europäische Überlegenheit zu demonstrieren. So wurde dem Osmanischen Reich in den 1870er Jahren ein Bosporus-Rettungsbootdienst aufgezwungen, „als eine Art Türöffner für ausländische Einmischung, einschließlich der Bedienung der Schifffahrtsinteressen europäischer Mächte“, fügt Trüper hinzu.
Für die heutige humanitäre Hilfe relevante Auswirkungen und Erkenntnisse
Trüper argumentiert: Es wirkt in die Gegenwart nach, dass die unterschiedlichen humanitären Probleme in der Geschichte nie durch eine einheitliche Moralvorstellung im Hinblick auf Hilfsaktionen, bei denen alle gefährlichen Situationen gleich behandelt werden, vereint wurden. „Die Grenzen der heutigen Humanität können auf die wechselhafte und inkonsistente moralische Kultur der Vergangenheit zurückgeführt werden. So gibt es beispielsweise moralisch und rechtlich motivierte Interventionen zur Rettung der gefährdeten Migranten, die das Mittelmeer überqueren, aber keine für diejenigen, die die Sahara aus ähnlichen Gründen durchqueren und ähnlichen Gefahren ausgesetzt sind“, so Trüper. AISLES hat bisher verschiedene Veröffentlichungen hervorgebracht, darunter „Moral Seascapes: On the Ethics and Aesthetics of Maritime Emergency“(öffnet in neuem Fenster) sowie eine demnächst erscheinende Sonderausgabe über „Social Imaginaries of Maritime Emergency“. Eine deutschsprachige Monographie(öffnet in neuem Fenster), in der die theoretischen Grundlagen des Projekts im Hinblick auf Normen, Werte und den Geschichtsbegriff erörtert werden, ist ebenfalls verfügbar. Eine weitere über die Geschichte der Rettung von Menschenleben aus Schiffswracks soll nächstes Jahr erscheinen.